Rund 1,3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien sollen in den sechs Jahren seit Ausbruch der Krise ins Nachbarland Jordanien geflohen sein. In dem Land mit seinen neuneinhalb Millionen Einwohnern ist der soziale Frieden gefährdet – und damit einer der letzten Stabilitätsanker der Region.

Amman/Zaatari - Selbst gebackener Kuchen steht auf dem kleinen schwarzen Plastiktisch. Auf gemusterten Bodenmatten haben es sich die Gäste auf der provisorischen Veranda von Samar Hadj bequem gemacht. Sie sitzen vor dem Container, der zum neuen Zuhause der 39-Jährigen und ihren Kindern geworden ist. „Sie kamen in unser Haus, haben die Männer mitgenommen und bedroht“, erzählt Hadj. Wegen der Kinder habe sie beschlossen, erst einmal weg zu gehen aus ihrer Heimatstadt Dar’a im Süden Syriens. Eine Woche, oder zwei, bis sich die Situation beruhigt habe. Das ist nun fünf Jahre her.

 

Noch immer lebt Hadj mit ihren vier Kindern in dem Container im Zaatari-Camp im Norden Jordaniens, etwa 88 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt und geht hier ihrem Alltag nach. Morgens um sechs geht sie in die Moschee zum Morgengebet, danach weckt sie die Kinder. „Mit Zeinab gibt es immer Ärger, sie will immer noch weiter schlafen, aber sie muss ja in die Schule“, so Hadj. Die Neunjährige geht in die dritte Klasse. Den vierjährigen Abdallah macht Hadj für den Kindergarten fertig. Er wurde im Camp geboren. Um neun beginnt ihre eigene Arbeit, sie bereitet in einem Projekt des Welternährungsprogramms WFP das Essen für einen Teil der rund 27 000 Schulkinder des Camps vor. Dafür bekommt sie 13 Euro täglich zusätzlich zu ihrer Grundversorgung. Der Vater der Kinder gilt seit ein paar Jahren als vermisst. Samar Hadj ist auf sich allein gestellt.

Das Camp mit seinen 80.000 Bewohnern entwickelt sich zur Stadt

Seit 2012, dem Jahr, in dem sie nach Zaatari kam, habe sich vieles zum Besseren verändert, sagt Hadj. Fast 80 000 Menschen leben in dem Camp, das sich langsam zu einer kleinen Stadt entwickelt. Drei Brunnen wurden gebaut. Leitungen führen das Wasser direkt in die Container, in denen die Bewohner sich eingerichtet haben. Manche haben ihre Behausung mit Wellblech erweitert, sich wie Hadj eine überdachte Veranda gebaut. An den Wänden einiger Behausungen prangen bunte Gemälde mit Sprüchen: „Ich liebe Syrien“, steht an einer Wand. „Ich vermisse meine Heimat“, an einer anderen. Davon, dass es bereits geplant ist, Häuser aus Stein zu bauen, sei noch nichts bekannt, sagt Shaza Moghraby, Sprecherin des WFP in Jordanien. Das kann aber jeden Tag soweit sein – es wäre ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Menschen hier die Hoffnung aufgegeben haben, bald in ihr Heimatland zurückkehren zu können.

Etwas, was die jordanische Regierung eigentlich vermeiden will. Seit Anfang der Krise in Syrien im Jahr 2011 sind etwa 665 000 registrierte Flüchtlinge über die Grenze ins Nachbarland Jordanien gekommen. Die Regierung des Landes spricht von 1,3 Millionen Syrern – viele sind nicht offiziell registriert. Nicht nur die Syrer, auch die jordanische Regierung hätte es gerne, dass sich die Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder in ihrer Heimat leben können. Nach 1948 waren wegen des israelischen Unabhängigkeitskrieges bereits fast zwei Millionen Palästinenser nach Jordanien gekommen – aus ihren einstigen Flüchtlingslagern sind heute feste Siedlungen geworden.

Die Arbeitslosigkeit steigt

Jordanien, mit den Nachbarstaaten Syrien, Irak, Saudi-Arabien und Israel gilt als Stabilitätsanker in der so krisenhaften Region, als wichtiger Part in der Koalition gegen den so genannten Islamischen Staat. Die Bundesregierung plant derzeit, 260 Soldaten mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug aus dem türkischen Incirlik nach Jordanien verlegen. Doch diese so wichtige Stabilität Jordaniens ist fragil, das Land besteht zu 80 Prozent aus Wüste, ist demnach nur begrenzt landwirtschaftlich nutzbar und arm an Wasserressourcen. Die Arbeitslosigkeit ist im Jahr 2016 auf 15,8 Prozent gestiegen, 2015 lag sie noch bei 13 Prozent. Im sechsten Jahr der Syrien-Krise liegt daher der Fokus darauf, den sozialen Frieden unter den neuneinhalb Millionen Einwohnern, von denen 2,9 offiziell als „Gäste“ angesehen werden, nicht zu gefährden.

„Nach sechs Jahren Krise merken wir deutlich Auswirkungen auf die jordanische Bevölkerung“, sagt Mageed Yahia, der Landesleiter des Welternährungsprogramms in Jordanien. „Bereits seit 2014 kombinieren wir daher unsere Programme für die Flüchtlinge mit Hilfe für arme Jordanier“, erklärt er. Das helfe auch, im Inland Spannungen zwischen Syrern und den Aufnahmegemeinden abzubauen. Deutschland war 2016 nach den USA der zweitgrößte staatliche Geldgeber des Welternährungsprogramms insgesamt und hat 582 Millionen Euro für Maßnahmen in der Syrien- und Irakkrise bereit gestellt. In Jordanien finanziert die Bundesrepublik mit 128 Millionen Dollar (114 Millionen Euro) rund die Hälfte aller WFP-Programme.

Basheer Al Daher will ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein

In der jordanischen Hauptstadt Amman sitzt Basheer Al Daher mit etwa 20 anderen in einem kleinen Hörsaal. Der 40-Jährige hat sich einen Platz in der ersten Reihe gesichert. Er kommt wie Samar Hadj aus Dar‘a und ist seit vier Jahren mit seiner Frau und den fünf Kindern in Jordanien. Hier, am Talal-Abu-Ghazaleh-Institut in Amman, lernt Al Daher, in einem 26 Tage dauernden Training, wie er sein eigenes Unternehmen aufbaut, wie er einen Businessplan schreibt und sich richtig präsentiert, um für seine Idee zu werben.

10 Jordanische Dinar, etwa 13 Euro, bekommen die Teilnehmer pro Tag vom WFP, als Zuschuss um die Familie zu ernähren und den Transport zum Trainingsort zu finanzieren. 70 Prozent seiner Mitschüler sind Jordanier – so schreibt es die jordanische Regierung für derartige Projekte vorgeschrieben.

Und Al Daher hat bereits einen ausgearbeiteten Plan: Er und vier Jordanier aus dem Kurs wollen eine Näherei aufmachen, in der syrische Flüchtlinge arbeiten können. In Syrien war er bereits als Schneider und Lehrer tätig. In Jordanien hilft er ehrenamtlich als Arabisch-Lehrer für syrische Kinder. „Ich möchte keinen Fisch bekommen“, sagt Al Daher über seine Beweggründe, an dem Training teilzunehmen. „Ich möchte lernen, wie ich selber fischen kann.“ Er hoffe zwar, dass der Krieg in Syrien bald vorbei ist. „Aber die Wahrscheinlichkeit ist leider nicht sehr hoch. Also will ich sicherstellen, dass ich ein wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft sein kann.“

Ein Leben in der Ausnahmesituation

Auch im 70 Kilometer entfernten Zaatari-Camp sind viele Menschen froh, dass sie sich selbst etwas dazu verdienen können. Dass sie nun in der Schulküche Arbeit hat, bedeute ihr viel, sagt Samar Hadj. Bevor sie dieser geregelten Tätigkeit nachging, sei sie depressiv gewesen, ihre Moral ganz weit unten. „Die Arbeit gibt mir nun eine Aufgabe - und von dem zusätzlichen Geld kann ich auch mal etwas für die Kinder kaufen“, sagt Hadj. In den Läden auf der Hauptstraße des Camps, die von den Bewohnern „Champs-Elysees“ genannt wird, bekommt man quasi alles, was man braucht. Ein Stand hat alte Röhrenfernseher im Angebot, vor einem anderen hängen bunte Fußballschuhe. Mehrere Frisöre haben sich niedergelassen und hinter einem Schaufenster glitzern aufwändig gestaltete Hochzeitskleider um die Wette.

Dennoch, es ist ein Leben in einer dauernden Ausnahmesituation. „Die Kleinen kennen es nicht anders, aber für meine Tochter und meinen Sohn im Teenager-Alter ist das Leben im Camp sehr schwer, ihre Frustration ist sehr hoch“, sagt Hadj. Ihr ältester Sohn habe es im Camp nicht ausgehalten, vor vier Jahren hat er sich aufgemacht und ist über das Mittelmeer nach Deutschland gegangen. Der 23-Jährige lebt heute in Hamburg, mit ihm steht die Mutter per Kurznachrichtendienst Whatzapp in Kontakt.

Wie sie sich ihr Leben in fünf Jahren vorstellt? Einen baldigen Frieden in Syrien hat Hadj nicht vor Augen. Aber ganz egal wo, sie möchte wieder mit ihrer Familie vereint sein. „Mit meinem Sohn und meiner Zwillingsschwester“, sagt sie und schluckt hastig die aufsteigenden Tränen wieder runter. Die Schwester lebe in einem Camp in Beirut, erzählt sie dann weiter. „Sie ist meine Seelenverwandte. Es zerreißt mich, dass ich nicht bei ihr bin.“