Ist Merkel die brutale Sparkommissarin, als die sie im Ausland oft dargestellt wird?
Auch ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik einseitiges Gewicht auf die fiskalische Disziplin legt.

Muss diese Disziplin angesichts der hohen Staatsschulden nicht zumindest ein Teil der Antwort sein?
Fiskalische Disziplinlosigkeit zu vermeiden trägt zweifellos dazu bei, eine ähnliche Krise in Zukunft zu verhindern. Aber sie ist keine Antwort auf die aktuellen Probleme. Dadurch sinken weder die Zinsen noch nimmt die Arbeitslosigkeit in Griechenland ab. So wie sich Unternehmen Geld leihen, um zu investieren, sollten das auch Staaten tun dürfen. Es kommt allerdings darauf an, dass die künftige Rendite dieser Investitionen die Kosten der Verschuldung übersteigt.

Also plädieren Sie dafür, mehr öffentliches Geld einzusetzen, um jetzt das Wachstum anzukurbeln?
Das ist unbedingt notwendig. Europaweites Sparen reicht nicht aus, um die Krise zu überwinden. Dafür braucht man auch mehr Geld. Deutschland sollte einen besonderen Ansatz verfolgen. Ihr Land trägt Verantwortung dafür, seinen Exportüberschuss zu verringern und mehr Importe aus anderen Ländern aufzunehmen. Das ließe sich erreichen, indem die Bundesregierung einerseits die Nachfrage stärkt. Eine Umverteilung von Einkommen von oben nach unten mittels der Steuerpolitik und stärkere Lohnerhöhungen als im vergangenen Jahrzehnt wären richtige Maßnahmen. Helfen können außerdem öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und eine klimafreundliche Energieversorgung. Hier kommt die Solidarität wieder ins Spiel. Man muss in Europa gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen in welchem Land am sinnvollsten sind.

Halten Sie es für den richtigen Weg, die europäische Integration voranzutreiben?
Auf jeden Fall. Aber eine intensivere Kooperation in Europa bedeutet mehr als finanzielle Handschellen. Ein gemeinsames Gefängnis zu bauen ist keine politische Vision. Dazu gehören ein Contrat social zwischen Regierungen und Bürgern, eine abgestimmte Finanzpolitik, gemeinsame Institutionen und eben auch das rechte Gespür dafür, was man anderen noch zumuten kann und was nicht.

Kann Europa ein Modell für andere Weltregionen sein, wenn es diese Voraussetzungen erfüllt?
Ja, aber es wäre dann auch ein Modell dafür, was man tun muss, um eine funktionierende Union unabhängiger Staaten zu verwirklichen. Der gemeinsame Markt ist zwar eine gute Sache, aber freier Handel ist nicht alles. Auch eine gemeinsame Währung ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg. Man muss darüber hinausgehen zu einer politischen Union, die auch soziale Mindeststandards zugunsten der Bürger garantiert.

Wie sieht Ihre Prognose aus – wird Europa die Krise lösen?
Wenn es gelingt, die nächste Stufe der politischen Union zu erreichen, wird Europa seine Krise wohl bewältigen. Wichtig ist aber, dass die Staaten wirkliche Solidarität praktizieren. Sonst machen die Bürger in dem einen oder anderen Land nicht mehr lange mit.
Das Gespräch führte Hannes Koch.