Jossi Wieler, der Intendant der Stuttgarter Oper, kehrt zu seinen Anfängen zurück. Nach sechs Jahren Pause inszeniert er wieder ein Sprechtheater-Stück. Am Freitag bringt er „I:N:R:I“, das neueste Drama seines Intendantenkollegen Armin Petras, ins Stuttgarter Kammertheater.

Stuttgart – - Er ist ein Theatermann, dem Posen und Allüren fremd sind. Davon gibt es nicht viele im internationalen Theaterbetrieb, der sich wichtiger nimmt, als er ist. Dagegen Jossi Wieler: ernsthaft und nachdenklich, skrupulös jedes Wort abwägend spricht der 64-jährige Opernintendant über seine Arbeit in Stuttgart – und über seine Rückkehr zum Schauspiel, wo er jetzt erstmals wieder Regie führt.
Herr Wieler, nach langer Abstinenz inszenieren Sie wieder Sprechtheater. Warum?
Mein letztes Schauspiel habe ich 2010 bei den Salzburger Festspielen herausgebracht, ja, stimmt! Als aber klar war, dass ich in Stuttgart die Oper übernehmen werde, habe ich eine Entscheidung getroffen: nur noch Musiktheater, nur noch im eigenen Haus, keine Gastregie anderswo. Seit meinem Amtsantritt 2011 erarbeite ich hier zusammen mit dem Chefdramaturgen und Regiepartner Sergio Morabito pro Saison zwei Operninszenierungen. Daneben konzentriere ich mich auf die Leitungsaufgaben. Das ergibt ein volles Arbeitsprogramm.
Wie schaffen Sie das Kunststück, als international begehrter Theatermann der hiesigen Oper derart treu zu bleiben?
Ganz einfach: ich sage „Nein“ zu allen Verführungsversuchen.
Aber jetzt haben Sie doch Ihr Jawort gegeben, wenn auch Ihrem unmittelbaren Nachbarn. Warum inszenieren Sie im Schauspiel von Armin Petras ein Sprechtheaterstück?
Ich glaube, die Zeit ist reif dafür: Ich kann jetzt eine Regie außerhalb der Oper verantworten, sowohl mir gegenüber als auch dem Opernbetrieb, zumal ich ja in den Staatstheatern bleibe. Ich bin vor Ort und kann weiterhin Anteil nehmen an dem, was in der Oper passiert. Aber neben diesen formalen Gründen gibt es natürlich auch inhaltliche: die Lust aufs Schauspiel. Und weil die Konstellation so günstig ist, habe ich gute Gründe, dort wieder Regie zu führen.
Was trägt – neben dem Ort – noch zur günstigen Konstellation bei?
Eben der Kollege Armin Petras und das neue Stück von Fritz Kater  . . .
 . . . der Name, unter dem er schreibt  . . .
 . . . ein Stück, das mich sehr interessiert.
Dessen Titel ist sehr kryptisch: „I’m searching for I:N:R:I“. Worum geht es?
Es geht um verschüttete, durch den Krieg versehrte Biografien, daher auch der Untertitel: „Eine Kriegsfuge“. Die beiden Hauptfiguren sind Maibom, Jahrgang 1919, und Rieke, Jahrgang 1926. Rieke besitzt aber noch zwei andere Identitäten, ihre Biografie verlangt es, dass sie den Namen wechselt. In einem gewissen Sinn ist Katers Drama also ein Kriminalstück und ein Spionagethriller, aber eben nur in einem gewissen Sinn, denn es lässt sich nicht auf ein Genre einengen. Ich habe sowieso die Erfahrung gemacht, dass ich, wenn ich den Inhalt des Stücks nachzuerzählen versuche, seinem dramatisch-poetischen Potenzial nicht gerecht werde. Das klingt dann oft so simpel und vernachlässigt völlig, dass es ja nicht nur um die Story geht, sondern um die sozialen, historischen und psychologischen Dimensionen dahinter.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir die Sprache des Stücks: obwohl sie modern ist, erinnern mich die Versehrtheiten, die darin zum Ausdruck kommen, an Kleist. Die Figuren verschweigen viel. Die dabei entstehenden Satzlücken sind auch schmerzhafte Lücken in ihrem Leben. Nicht umsonst springt das Stück virtuos zwischen mehreren Zeitebenen umher, mit Vor- und Rückgriffen, mit Erinnerungen, Träumen, Albträumen. Wer es liest, nimmt an einer archäologischen Grabung teil: Nach und nach legt das Stück unterschiedliche Schichten frei, biografische und historische.
Zurück zu Ihrer Intendanz: Sie füllen sie ganz anders aus als Ihr Kollege vom Schauspiel. Während Sie jeden Tag im Haus sind, ist Armin Petras häufig unterwegs.
Armin arbeitet anders als ich. Er hat seinen eigenen Führungsstil. Er kann Dinge, die ich nicht kann, und ich kann womöglich Dinge, die er nicht kann. Aber genau so, nicht anders, muss es sein in einem Künstlerkollektiv, wie es das Stuttgarter Modell mit seinen gleichberechtigten Intendanten ermöglicht! Die Unterschiede zwischen Armin und mir steigern nur unsere gegenseitige Wertschätzung.