Mesale Tolu, Deniz Yücel, Peter Steudtner: Diese Namen stehen stellvertretend nicht nur für die in der Türkei inhaftierten Deutschen, sondern auch für die Krise zwischen Ankara und Berlin. Als erster von diesen Dreien wird nun Mesale Tolu der Prozess gemacht.

Istanbul - Als Ali Riza Tolu seine Autowerkstatt in Ulm aufgab, hatte er sich seinen Ruhestand anders vorgestellt: Seit Monaten verbringt der 58-Jährige einen großen Teil seiner Zeit mit Gefängnisbesuchen. Immer montags ist er im Frauenknast im Istanbuler Stadtteil Bakirköy, wo seine Tochter Mesale Tolu mit dem zweijährigen Enkelsohn sitzt. Donnerstags steht eine Visite im Gefängnis in Silivri an, wo er seinen Schwiegersohn Suat Corlu besucht. Was Ali Riza Tolu an diesem Mittwoch machen wird, weiß er ebenfalls schon genau: Er wird dabei sein, wenn in Silivri der Prozesses gegen seine deutsche Tochter beginnt - die er für eine „politische Geisel“ hält.

 

In der Krise um die Inhaftierung von Deutschen in der Türkei werden drei Namen immer wieder genannt: Der der Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu, der des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel und der des Menschenrechtlers Peter Steudtner. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel sagte im Juli: „Die Fälle von Peter Steudtner, Deniz Yücel und Frau Tolu stehen beispielhaft für die abwegigen Vorwürfe von Terrorpropaganda, die offensichtlich nur dazu dienen sollen, jede kritische Stimme in der Türkei zum Schweigen zu bringen, derer man habhaft werden kann - auch Stimmen aus Deutschland.“

Prozess wegen Propaganda

Als erste aus dieser Dreierriege wird nun Mesale Tolu vor Gericht gestellt. Anwältin Kader Tonc sagt, ihre Mandantin gehöre zu 18 Angeklagten, denen der Prozess wegen Propaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP gemacht werde. Mesale Tolu - deren Familie ursprünglich aus dem ostanatolischen Malatya stammt, die aber nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt - drohten bis zu 20 Jahre Haft.

Die Anklage, die der dpa in Teilen vorliegt, wirkt dafür allerdings dünn: Der 33-Jährigen wird darin vorgeworfen, an vier Veranstaltungen teilgenommen zu haben, bei denen Propaganda für die MLKP betrieben worden sei. Bei einer Veranstaltung soll Tolu selbst ein Banner einer MLKP-Splittergruppe getragen haben. Außerdem soll in ihrer Wohnung Propagandamaterial gefunden worden sein. Die MLKP wird in der Türkei als Terrororganisation geführt, ihre Anhänger in Deutschland werden vom Verfassungsschutz beobachtet.

Tolu arbeitete für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha. Etha wurde bislang - anders als zahlreiche andere regierungskritische Medien - nicht von den Behörden geschlossen. Allerdings ist die Webseite der Agentur in der Türkei gesperrt. Etha ist im Istanbuler Stadtteil Fatih in einem grauen Apartmentblock untergebracht, an dem kein Schild auf das Büro hinweist. Im Bücherregal stehen Werke über Stalin und über marxistische Theorie. Etha-Nachrichtenchefin Derya Okatan sagt, die Agentur sei sozialistisch, aber unabhängig. Mesale Tolu sei zwischen Deutschland und Istanbul gependelt. Wenn sie in der Agentur gewesen sei, habe sie Nachrichten übersetzt und geschrieben.

Der zweijährige Sohn sitzt mit der Mutter in der Zelle

Als eine Anti-Terror-Einheit am 30. April Tolus Wohnung stürmte, waren die Deutsche und ihr Sohn gerade in Istanbul. Ihr Ehemann - der in der sozialistischen Partei ESP und der pro-kurdischen HDP aktiv war - saß da bereits in Untersuchungshaft. Ali Riza Tolu sagt, um 4.30 Uhr morgens seien 20 maskierte und schwer bewaffnete Polizisten in die Wohnung seiner Tochter eingedrungen. Mesale Tolu sei auf dem Boden liegend mit Handschellen am Rücken gefesselt worden, ihr Sohn habe daraufhin zu weinen begonnen. Ein Polizist habe dem Zweijährigen gesagt: „Wir haben Deinen Vater festgenommen, jetzt nehmen wir Deine Mutter fest. Und wenn Du weinst, dann nehmen wir Dich auch fest.“

Ali Riza Tolu kam daraufhin nach Istanbul, zunächst kümmerte er sich um seinen Enkelsohn. „Mit der Zeit haben wir bei dem Kind gesehen, dass es stottert“, sagt er. „Ich wollte es zuerst nach Deutschland zu meinen anderen Enkelkindern bringen, damit es dort mit ihnen in den Kindergarten geht.“ Als es dem Jungen aber immer schlechter gegangen sei, habe die Familie beschlossen, ihn zur Mutter ins Gefängnis zu bringen. Beim ersten Wiedersehen sei er kurz „wie erstarrt“ gewesen. „Dann ist er plötzlich losgerannt und hat sie umarmt. Am zweiten Tag hat er seine Mutter gefragt: „Warum hast Du mich verlassen?“.“

Seine Tochter sitze in einem Zellentrakt mit anderen „politischen Gefangenen“, sagt Ali Riza Tolu. Insgesamt seien dort 17 Frauen untergebracht, die sich alle um den kleinen Jungen kümmerten. Sein Enkelsohn schlafe in der Zelle der Mutter in seinem eigenen Bett. Ob das Kind auch Spielzeug habe? „Nur einen Fußball“, sagt der Großvater. Er habe dem Jungen zwar Spielzeugautos mitgebracht, die habe die Gefängnisverwaltung aber nicht erlaubt. Zweimal habe er seinen Enkel für ein paar Tage aus dem Gefängnis in Bakirköy geholt - unter anderem, um den Vater im Gefängnis in Silivri zu besuchen.

Angst um das Enkelkind

Für Ali Riza Tolu ist es zum Lebensinhalt geworden, sich um jenen Teil seiner Familie zu kümmern, der hinter Gittern ist. „Ich bleibe hier, bis ich sie rausgeholt habe“, sagt er. Seine Ehefrau ist schon vor langer Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die drei Kinder hat Ali Riza Tolu in Ulm mit Hilfe seiner Mutter großgezogen. Seine heute 80-jährige Mutter habe Mesale Tolu angefleht, nicht zu gehen, als sie vor drei Jahren mit ihrem Ehemann in die Türkei zog. „Sie hat ihr gesagt: Sie werden Dich ins Gefängnis stecken.“

Ali Riza Tolu bezeichnet sich ebenfalls als Sozialisten. Er wirkt, als sei er stolz auf seine Tochter, auch wenn er diesen Begriff nicht verwenden will. „Stolz ist ein nationalistisches Wort“, sagt er. „Ich freue mich, dass ich eine Tochter habe, die gegen Ungerechtigkeit kämpft und schreibt. Ich stehe hinter allem, was meine Tochter tut. Sie hat nichts Falsches gemacht.“ Mesale Tolu gehe es gut, auch wenn sie im Gefängnis sitze. „Sie bereut nichts. Sie sagt: Wenn ich hier rauskomme, dann mache ich den gleichen Job weiter.“

Mehr Sorgen als um seine Tochter macht Ali Riza Tolu sich um seinen Enkelsohn. Als er den Jungen das letzte Mal bei sich draußen gehabt habe, habe er nicht ins Gefängnis in Bakirköy zurückkehren wollen, sagt der Großvater. Der Zweijährige male Bilder, auf denen er selber, die Mutter und der Vater im Gefängnis seien - nur der Opa sei in Freiheit. Was mit dem Jungen geschehe, wenn Mesale Tolu nicht bald aus der Untersuchungshaft entlassen werde? Der Großvater sagt: „Dann nehme ich ihn wahrscheinlich mit nach Deutschland.“

In Ulm ist Tolu eine große Unterstützung sicher. Zu einem Solidaritätskonzert am Wochenende kamen rund 300 Menschen, sagte ein Sprecher des örtlichen Solidaritätskreises. Auch Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch (CDU) war dabei. Im Internet wurde das rund vier Stunden dauernde Konzert live übvertragen.