Die größte U-Bahn der Welt wird am Sonntag 75 Jahre alt, ist ein Synonym für Superlativen. Trotzdem verfallen Teile der Strecke seit Jahren.

Moskau - Für Europäer ist das Tempo gewöhnungsbedürftig. Moskauer Rolltreppen laufen dreimal so schnell wie deutsche. Dennoch dauert die Fahrt vom Bauch der russischen Hauptstadt bis zur Erdoberfläche drei Minuten. Denn die Station liegt in einer Tiefe von 84 Metern. Das ist Weltrekord, und die Moskauer Metro, die am Sonntag 75 Jahre alt wird, ist auch sonst ein Synonym für Superlative.

Zwölf Linien, mehr als 180 Stationen und ein Streckennetz von fast 300 Kilometern, das weiterwächst: Größer sind derzeit nur die U-Bahnen in London und New York. Dafür befördert die Moskauer Metro täglich mehr Passagiere als beide zusammen: knapp acht Millionen. Allein auf dem "Platz der Revolution" im Zentrum, wo sich drei Linien kreuzen, steigen täglich rund 330.000 Menschen um. Der Bahnhof ist mit Bronzeplastiken geschmückt: Kämpfer mit Gewehren und Hunden. Die Tiere zu streicheln bringt angeblich Glück. Hell wie poliertes Gold leuchten ihre Schnauzen daher aus dem dunklen Metall.

Erste Pläne für den Bau einer Untergrundbahn gab es schon im Zarenreich. Doch weil die Bauarbeiten Kirchen und Kathedralen ins Wanken zu bringen drohten, legte sich die orthodoxe Kirche quer. 1902 wurden die Baupläne eingemottet. Nachdem Moskau 1918 wieder Hauptstadt geworden war, wuchs die Bevölkerung der Stadt in zehn Jahren von einer auf vier Millionen Menschen. Im Juni 1931 gab ein Sonderplenum der Kommunistischen Partei daher grünes Licht für den Metrobau. Obwohl sich bald Tausende durch das Erdreich wühlten, ging es quälend langsam voran. Nach einem Streik der lausig bezahlten Bauarbeiter 1933 übertrug Josef Stalin das Prestigeprojekt dem kommunistischen Jugendverband. Weil diese "Komsomolzen" statt Erfahrung nur Enthusiasmus mitbrachten, wurden schließlich Bergarbeiter vom Don und aus dem Ural verpflichtet. Im Mai 1935 fuhren die ersten Züge. Dreizehn Stationen wurden bis Jahresende in Betrieb genommen, einige sind heute ein Muss für westliche Touristen.

Viele Moskauer fahren seit Jahren nicht mehr mit der Metro


Stalin wollte sein Volk wegen permanenter Lebensmittelknappheit mit unterirdischen Palästen bei Laune halten. Heraus kam eine krude Mischung aus Kitsch und Kunst. Die Eingangshallen über der Erde zeigen sich oft als eine Mischung aus antikem Tempel und öffentlicher Bedürfnisanstalt. Die Bahnsteige unter der Erde zieren Fußböden mit kostspieligen Intarsien und Säulenreihen aus Marmor, gemalte Himmel mit vergoldeten Sternen und kunstvoll geschmiedete Gitter, die noch tiefer hinab in den Bauch der Erde führen. Wohin und wozu kann niemand erklären. Hartnäckig halten sich daher Gerüchte von einer geheimen Metrolinie mit einer Länge von 150 Kilometern, die direkt unter dem Kreml beginnen soll und von da zum Regierungsflughafen Wnukowo, zur Kommandostelle des Generalstabs oder der Luftabwehr im Moskauer Umland führt. Weder dementiert noch bestätigt, lieferte sie schon für mehrere Thriller die Vorlage.

Je näher das Ende der Sowjetunion rückte, desto nüchterner und karger wurden die Bahnhöfe ausgestattet. In den Außenbezirken wurden die Gleise seit 1980 nur noch über der Erde verlegt, um Geld zu sparen. Später wurden mehrere Stationen wegen Baufälligkeit geschlossen. Kurz zuvor hatte es bei einem Unfall auf einer Rolltreppe, bei der in voller Fahrt Stufen wegbrachen, einen Unfall mit acht Toten und Dutzenden Verletzten gegeben. Insgesamt fast hundert Menschen kamen bisher in der Metro bei Terroranschlägen um.

Viele Moskauer sind seit Jahren nicht mehr Metro gefahren, andere haben sie nie gesehen: Rampen für Rollstuhlfahrer gibt es nicht, Fahrstühle nur in den neuen Bahnhöfen. Für Ausländer bleibt eine Fahrt durch die Moskauer Unterwelt in jedem Fall ein Abenteuer: Alles ist nur mit kyrillischen Buchstaben ausgeschildert.