Jubiläum in Oberesslingen Kirche im Eigenbau: 75 Jahre St. Albertus Magnus
Unter schwierigsten Nachkriegsbedingungen wurde das Gotteshaus fast vollständig von Mitgliedern der Gemeinde gebaut. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.
Unter schwierigsten Nachkriegsbedingungen wurde das Gotteshaus fast vollständig von Mitgliedern der Gemeinde gebaut. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.
Sie lugen vom Gerüst, hocken auf dem Dach bis hoch zum First, reichen von unten nach oben die Ziegel durch auf der langen, locker angelehnten Leiter. 70 junge Leute, allesamt kein Fachpersonal, decken das Dach der Kirche Sankt Albertus Magnus in Oberesslingen. „70 Leute und 100 Schutzengel“, sagt Alfred Storr, der damals dabei war und heute 90 Jahre alt ist. Wohl wahr, das mit den Schutzengeln. Passiert ist nichts. Nichts? Doch: eine außergewöhnliche, heute schier undenkbare Gemeinschaftsaktion.
Das Gotteshaus, vor genau 75 Jahren eingeweiht, wurde nach dem Krieg unter schwierigsten Bedingungen gebaut – und zwar fast ausschließlich in Eigenarbeit von großteils ungelernten Gemeindemitgliedern. „Da waren alle dabei: Männer, Frauen, Alte und viele Junge, sogar Kinder“, sagt Storr. „Heute wäre das unmöglich, da würde sofort die Berufsgenossenschaft dastehen.“
Damals hat sich keiner groß darum geschert. Behördliche Auflagen? Dafür gab’s die Amerikaner. Pfarrer Bruno Hilsenbeck hatte einen guten Draht zur Besatzungsmacht. Sicherheitsvorschriften? Man hatte andere Probleme. Vor allem das Problem, nichts zu haben. Kein Baumaterial, kaum Geld, nichts zu essen. Hans Reichle, 88 Jahre alt und als jugendlicher Ministrant ebenfalls „Bauarbeiter“, erinnert sich: „Pfarrer Hilsenbeck war ein großer Bettler. Er hielt in kurzer Zeit 600 Bettelpredigten.“ Sein Charisma brachte selbst in kargen Nachkriegszeiten einiges zusammen: Geldspenden, zusätzliche Lebensmittelrationen von den Amerikanern, Naturalien aus Oberschwaben, wo er herstammte. Damit entlohnte man die Bauhandwerker für die paar Aufgaben, die man partout nicht selbst bewältigen konnte. „Auch wir waren froh, dass wir nach einem Tag auf der Baustelle abends ein Vesper bekamen“, sagt Storr. Nur das Spendengeld – das war mit der Währungsreform 1948 komplett futsch.
Doch das Bauprojekt hatte seinen Kipppunkt überschritten. Der lag in den düsteren Jahren 1946/47, „als man wirklich hungerte“, wie sich Reichle erinnert. Selbst die Diözese Rottenburg habe damals empfohlen, den Kirchenbau „künftigen Generationen“ zu überlassen. Pfarrer Hilsenbeck, der laut den Zeitzeugen Beharrlichkeit mit der Fähigkeit verband, andere ebenso wie sich selbst zu begeistern, fand sich damit nicht ab. Man krempelte die Ärmel hoch – und am 20. Juli 1947 war Baubeginn.
Eine Baugenehmigung immerhin war erforderlich. Sie wurde erteilt „unter Ausschluss jeden kontingentierten Baumaterials, da der Wiederaufbau der Städte Vorrang hat“. Eine Bestimmung, die auch die Amerikaner nicht aufheben konnten und wollten. Aber sie leisteten mit ihren Fahrzeugen Transporthilfe, erzählt Storr. Denn irgendwoher musste das Baumaterial kommen. Es kam aus einem Steinbruch bei Gönningen, dessen Besitzer der Kirchengemeinde den Abbau erlaubte. So zog denn ein Trupp kräftiger Oberesslinger Katholiken ins Albvorland und sägte das Material aus der Wand. Einer von ihnen, erzählt Reichle, brachte nicht nur Tuffstein mit, sondern auch seine künftige Ehefrau, die Tochter des Steinbruchbesitzers.
Was motivierte die Menschen, sich mit bescheidensten Mitteln und mitten im Nachkriegselend für einen Kirchenbau zu verausgaben? Sinnsuche, Gemeinschaftserlebnis, Bekenntnis zum Glauben, Aufbruchsstimmung – alles in allem vielleicht gerade das Elend selbst. „Es gab ja sonst nichts. Viele waren arbeitslos, und wir Jugendliche hatten keinerlei andere Freizeitangebote“, sagt Storr.
Am 29. Oktober 1950, dem Christkönigsfest, wurde St. Albertus Magnus eingeweiht, der erste katholische Kirchenbau in Esslingen seit der Reformation. Am kommenden Wochenende wird das Jubiläum gefeiert. Über 8000 Katholikinnen und Katholiken zählten damals zu der großen Gemeinde. Das neue Gotteshaus nach Plänen des Münchner Architekten Ernst Barth drücke mit seinem neoromanischen Stil, den massiven Bauformen einer Zufluchtstätte die „nach den Verheerungen des Nationalsozialismus vorherrschende Sehnsucht nach Kraft und Geborgenheit in der Kirche aus“, sagt Stefan Möhler, der heutige Pfarrer von St. Albertus Magnus.
Was ist von dieser Sehnsucht geblieben in einer Zeit, in der die Kirche keine Kirchen mehr baut, sondern abbaut? „Wir haben eine andere Baustelle“, sagt Möhler. „Wie können wir die kirchliche Gemeinschaft so aufbauen, dass weiterhin Menschen in ihr ihren Glauben leben können?“ Die Kirchenbau-Aktiven von einst sehen jedenfalls mit Nostalgie, aber auch Verständnis, dass ihre Gemeinschaftsaktion im Zeitalter von Chillen und Freizeitstress, Social Media und Vereinzelung keine Chance hätte. Höchstens als fromme Utopie.
Konrad Lohmiller, der Vorsitzende des Kirchengemeinderats von St. Albertus Magnus, will indes die Entwicklung nicht nur negativ werten: „Das ehrenamtliche Engagement ist ungebrochen, das Interesse auch in unserer Gemeinde trotz schrumpfender Mitgliederzahlen sehr groß. Nur engagiert man sich heute auf andere Weise, nämlich vor allem im Sozialen.“
Und so weiß auch Alfred Storr, dass sein selbstkritischer Rückblick aus einer kirchenfern gewordenen Gegenwart nur relativ ist: „Wir haben nichts Nachhaltiges erreicht.“ Doch, haben sie. Ihre Kirche steht weiterhin.
Gottesdienst
Das Jubiläum zu 75 Jahre St. Albertus Magnus in Oberesslingen wird am Sonntag, 19. Oktober, zunächst mit einem Festgottesdienst in der Kirche gefeiert. Beginn ist um 10.30 Uhr.
Gemeindefest
Im Anschluss beginnt um circa 12 Uhr ein Gemeindefest im Gemeindehaus. Nach Stehempfang und Mittagessen gibt es eine Bilderreise durch 75 Jahre St. Albertus Magnus, ein Zeitzeugengespräch, Turm- und Glockenführungen, Kaffee und Kuchen und selbstverständlich ein Kinderprogramm.