Wie Klaus Heydenreich und Elisabeth Heydenreich in Stuttgart die erste freie Bühne gründeten, wie ihr Theater der Altstadt eine Feuerkatastrophe überlebt hat und warum Tochter Susanne Heydenreich das Haus übernommen hat, obwohl sie eigentlich andere Pläne hatte.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Zwei Sätze begleiten Susanne Heydenreich (64): „Der Lappen muss hochgehen, egal wie!“ und „Theater ist kein Erbhof“. Was vor allem der erste Satz bedeutet, lässt sich in diesen Tagen beobachten. Eigentlich sollte sie sich auskurieren, aber fürs Kranksein hat Susanne Heydenreich jetzt keine Zeit. Sie bereitet die Feier zum 60-jährigen Bestehen des Theater der Altstadt vor, probt, lernt Text für Brechts „Mutter Courage“ – die Premiere wird zwei Tage nach dem Jubiläumsfest stattfinden. Und sie sucht für die Theaterredakteurin im Archiv nach Anekdoten und Fotografien wichtiger Inszenierungen der vergangenen 60 Jahre.

 

Dafür allein schon zahlt sich die profunde Ausbildung aus: alles gleichzeitig und zwar bitte gut zu machen. „Im ersten Engagemen hatte ich als zusätzliche Vertragsverpflichtung zwei Drittel Kassen- oder Garderobendienst zu übernehmen, also an 20 Tagen. Das heißt, wenn ich selber abends spielte, verkaufte ich, so gut wie fertig kostümiert, entweder bis 20 Uhr Karten an der Kasse oder stand an der Garderobe um Mäntel abzunehmen, dann sauste ich in Richtunge Bühne. Das Geld wurde nach der Vorstlleung zur Bank gebracht, die Abrechnung machte ich nach der Vorstellung oder anderen Tag.“ So ging’s los für Susanne Heydenreich am Theater der Altstadt. Ihre Eltern, die Schauspielerin Elisabeth Justin Heydenreich (1924-2008) und Klaus Heydenreich (1909-1990) gründeten das Haus im Jahr 1958. Es war das erste Privattheater der Stadt, 1960 erstmals mit 1000 DM von der Stadt bezuschusst.

Für die Intendanz bewarb sich Susanne Heydenreich Jahrzehnte nach der Gründung „mit dem Gefühl, dass das nicht allen Politikern gefiel“, wie sie sagt. Damals, so erinnert sich Heydenreich, fiel auch der Satz: „Theater ist kein Erbhof“. Mit ihrer Bewerbung setzte sie sich gegen Dutzende Konkurrenten durch und leitet das Haus nun seit 1995. Den Satz mit dem Erbhof findet sie richtig. Dennoch, sagt sie, würde sie bei ihrer Nachfolge gern ein Wort mitsprechen. „Es muss jemand sein, der sich dem Theater verschrieben hat. Sonst kann man diese Vielfachbelastung nicht stemmen.“

Ein Ordner namens „Vergangenheit“

In einem Café gegenüber dem Theater an der Rotebühlstraße 89 packt die erkältete Theaterchefin jetzt neben Vitaminpräparaten eine Menge Bilder aus. Und einen Ordner namens „Vergangenheit“ mit Programmheften, Abrechnungszetteln, Briefen. Und was ist ihre Vergangenheit, ihre erste Erinnerung ans Theater? Der Vater führt sie während einer Umbaupause an der Hand, geht mit ihr auf die Bühne, zeigt ihr das Publikum: „Schau. Da sitzen sie.“ 1962 dann der erste Auftritt in Erwin Sylvanus’ „Korczak und die Kinder“. „Sie brauchten ein Kind in dem Stück. Mein Vater überlegte, ob es ohne Kind geht. Meine Mutter fragte mich abends, ob ich mit meinem Vater auf der Bühne stehen will. Ich war acht und ich wollte. Ich bekam mein erstes Textbuch, auf das in großer Schrift etwas schief aber stolz Susanne Heydenreich schrieb.“

Susanne Heydenreich ist vier Jahre alt, als die Eltern das Theater gründen, „das Theater war immer da, saß immer mit am Tisch. Wie ein kleiner Bruder, auf den man – auch fast immer – Rücksicht nehmen musste. Von dem man aber auch abgespielte Bühnenschaukeln im Türdurchgang bekam. Und immer wieder alte Requisiten, mit denen ich dann spielen konnte.“

Das erste Theater ist eine Baracke

Ein kunstbegeisterter Freund, Gottfried Müller, Gründer der Bruderschaft Salem, hilft bei der Erfüllung vom Traum eines eigenen Hauses. Zuvor hat Heydenreich als Oberspielleiter in Lübeck, Essen und Tübingen gearbeitet. Das Grundstück kommt von der Stadt. Die Baracke in der Brennerstraße, im Viertel hinter der Leonhardskirche, entsteht. Eine Baracke, „in der im Winter der Ofen bullerte. Im Sommer sich die Hitze staute. Es aber auch sonst heiß herging“, wie der einstige FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier schrieb.

Eine Bedingung: „Es durfte im ganzen Gebäude nicht geraucht werden, kein Fleisch gegessen werden und keine Fotos von Menschen gezeigt werden“ – Das waren Grundüberzeugungen der Bruderschaft Salem, an die sich alle hielten. 1969 dann die Katastrophe. Es ist die Premiere von „Magic Afternoon“, „auf der Bühne wurde geraucht, gekifft, gevögelt. Irgendwelche Fotos gab es wohl auch, aber das weiß ich nicht mehr genau“, erinnert sich Susanne Heydenreich. Acht Tage nach der Premiere bricht Feuer aus. Innerhalb von knapp 20 Minuten brennt das Theater nieder. „Ich erinnere mich, wie auf der Schiefertafel vor meiner Zimmertür, über die wir immer kommunizierten, stand, ich solle vor der Schule in Mams Zimmer kommen. Auf dem Tisch stand die Holzschatulle in der immr die Geldkasse transportiert wurde – sie war schwarz verkokelt, aber ich begriff nichts. Überall roch es komisch und Mam sagte, ,Das Theater ist heute Nacht abgebrannt.’“ Klaus und Elisabeth Heydenreich stehen vor Ruinen.

Schicksal oder Zufall? Die Brandursache wurde nie geklärt. Andere Institutionen bieten Asyl. Im Griechischen Zentrum spielt man und im Gemeindezentrum der Friedenskirche. Fünf Tage nach dem Brand feiert Samuel Becketts „Warten auf Godot“ Premiere im Kammertheater. „Der Lappen muss ja hochgehen.“ Der damalige Generalintendant des Württembergischen Staatstheaters, Walter Erich Schäfer, hatte den Heydenreichs die Bühne überlassen.

Experimentelle Zeitgenossenschaft

Die Autorenliste von damals liest sich wie ein Who is Who der Autoren des 20. Jahrhunderts, die auf den großen Bühnen nur selten zu sehen waren: Mit André Gides „Ödipus“ und Jean Cocteaus „Der schöne Gleichgültige“ geht’s 1958 los. Es folgen Sean O’Casey, Raymond Queneau, Tennessee Williams, Eugène Ionesco, Tankred Dorst, Jean Paul Sartre, Alfred Jarry, Yvan Goll, Günter Grass, Rainer Werner Fassbinder. Was sich heute jedes Stadt- und Staatstheater auf die Fahnen schreibt, hier war’s 1958 schon Programm und Praxis. Zeitgenössisches, Experimentelles, Kinder-, Jugend- und Erwachsenentheater steht auf den Spielplänen des kleinen, produktiven Hauses. 1981 und 1996 erhalten die Theaterliebenden das Bundesverdienstkreuz. Das schöne, begabte Paar spielt, inszeniert, baut Bühnenbilder. Die heute allerorten beklagte Selbstausbeutung der Künstler hat es immer schon gegeben. Auch mit fulminanten Ergebnissen. Mit Peter Weiss’ „Nacht mit Gästen“ und Martin Walsers „Der Abstecher“ wird das Haus 1965 zum Théâtre des Nations nach Paris eingeladen. Glückwunschbriefe von der Botschaft der BRD und aus dem Stuttgarter Bürgermeisteramt flattern ein.

Die Krise wird abgewendet

Unterm Charlottenplatz findet das Theater der Altstadt eine neue Heimat. Die Tochter verlässt das Theaterelternhaus, spielt anderswo, lernt andere Künstler kennen. Ein Netzwerk bildet sich, das später hilft. Einige Zeit nach dem Tod von Klaus Heydenreich im Jahr 1990 geht ein Gespenst um in Stuttgart, ein Gespenst des Theatersterbens. „Ich hatte nicht wirklich den Antrieb, hierher zurückzukommen“, sagt Susanne Heydenreich. Sie kam aber. „Ich fühlte mich moralisch verpflichtet.“ 1992 kam die Krise, eine Schließung des Theaters drohte. „Abends standen Kollegen und ich an den Ausgängen anderer Theater, um Unterschriften gegen die Schließung zu sammeln. Ich habe alle Regisseure, Schauspieler, Intendanten und Verlage, die ich in meiner Exilzeit kennen gelernt hatte angeschrieben - und alle haben geantwortet. Von Elert Bode bis Claus Peymann.“ Solidaritätsschreiben, öffentlicher Protest – die Schließung kann abgewendet werden.

Eine Zeit lang bespielt Heydenreich auch das Theater im Westen. Als sie sich für ein Haus entscheiden muss, wählt sie die jüngere Spielstätte. „Ich schaue nicht gern zurück. Daher war klar, wir gehen in den Westen“. Auch weil die Bühne größer, höher ist. Klar. Und obwohl das Budget für das Haus kleiner ist als am Charlottenplatz.

Die Verantwortung für Geld und Theater sind inzwischen getrennt; Förderverein, kaufmännischer Direktor wachen übers Budget. Susanne Heydenreich zeigt sich froh darüber: „das gibt mir Freiheit für die Kunst. Wenn man sich zu 100Prozent auf der Bühne engagiert, muss jemand da sein, der zu 100 Prozent die Zahlen überwacht.“. Komödien, Tragödien, Revuen werden im Westen gespielt. Und weiterhin Zeitgenössisches. Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“, Theresia Walsers „King Kongs Töchter“, Timur Vermes’ „Er ist wieder da“, „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad. Ein neues Stück des kanadischen Autors eröffnet an diesem Freitag übrigens die Intendanz von Burkhard C. Kosminski am Schauspielhaus. Am selben Tag macht Susanne Heydenreich sich selbst und ihrem Publikum ein Jubiläumsgeschenk mit einem ewig aktuellen Klassiker-Zeitgenossen: Bert Brecht. „Mutter Courage“.

Der Beiname der Heldin ist Programm für die Theaterchefin. Auf die Frage, was sie sich zum 60. des Hauses wünscht? „Die Subventionen von Stadt und Land müssen endlich angeglichen werden. Nur weil wir lange still gehalten haben und mit den geringen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bei vielen Zuschauern trotzdem sehr erfolgreich waren mit einer Auslastung von rund 72 Prozent, heißt das nicht, dass wir auch entsprechende Gagen bezahlen konnten. Die 150 000 Mark, die uns damals mit dem Umzug in den Westen aberkannt wurden sind nie wirklich zurückgekommen. Jetzt scheint das ein Klacks. Ist es aber nicht – vor allem wenn die Arbeit darunter leidet, weil die Kollegen immer mal wieder zu Proben nicht zur Verfügung stehen können, weil sie sich anderweitig noch verpflichten müssen, um ihre Familien ernähren zu können. Bis zum nächsten Doppelhaushalt müssen wir warten, aber dann muss auch dieses Theater endlich eine langfristige Planungssicherheit bekommen.