Das Staatsorchester unter Sylvain Cambreling feiert 425 Bestehensjahre – und Helmut Lachenmann steuert einen außergewöhnlichen Marsch bei.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Soweit im Fernsehen zu sehen, waren die Silvester- und Neujahrskonzerte aus Dresden, Berlin und Wien entweder problematisch programmiert, leicht überfrachtet oder tendenziell rostig in ihrer Historizität: Christian Thielemann ließ an der Elbe und in recht totalitärer ZDF-Kameraoptik alte Ufa- und Nazischlager („Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“, „Davon geht die Welt nicht unter“) gespenstisch scheinlebendig werden. Simon Rattle mit den Philharmonikern in der Hauptstadt hingegen gab den zeitgemäßen Warner, als er neben Schostakowitsch, Strauss, Dvorák und Brahms Leonard Bernsteins (der heuer, am 25. August, hundert Jahre alt geworden wäre) „White House Cantata“ zitierte: „Take Care of this House“, sang Joyce di Donato Richtung Atlantik und Donald Trump. In Wien wiederum zelebrierte Riccardo Muti (nunmehr bereits zum fünften Mal) als Neujahrsdirigent im pompösen Musikverein die Welt von vorvorgestern (Franz von Suppé, Alfons Czibulka): Schlagtechnisch korrekt behandelte Märsche und Dreivierteltakte wechselten sich, wie immer seit 1939, als das Neujahrskonzert an Silvester für Adolf Hitlers Kriegswinterhilfswerk erfunden wurde, ab.

 

Gruppenbild mit Marsch

Live in Stuttgart im Großen Haus zum Ausklang des ersten Jahrestages ein wohltuend anderes Bild und eine andere Stimmung. Unter unaufdringlichem Bühnenschmuck (zwei kleine Kronleuchter) und zwischen zwei Gestecken saß die Musik pur, das Stuttgarter Staatsorchester im 425. Lebensjahr – gerechnet wird vom ersten richtigen Hofkapellmeister an, das war Baduin Hoyoul, anno 1593. Und dann gruppierte sich jubiläumshalber Werk um Werk – wie man später merken sollte – um einen Marsch von Helmut Lachenmann herum, der es als letztes Stück vor der Pause (danach Ludwig van Beethovens fünfte Sinfonie) richtig in sich hatte: In der melodischen Anlage ein Ohrwurm – „Es-Dur, wie es sich gehört!“, hat der anwesende und gefeierte Komponist notiert – spiegelte das knapp zehnminütige Stück raffiniert zweierlei, nämlich Tradition und Traditionsbruch.

Lachenmann hat das Stück als musikalische Gaudi vom Klavier aus gedacht und sich dabei bewusst in eine Reihe gestellt mit anderen Teilzeitspaßvögeln wie Mozart, Beethoven, Mauricio Kagel („Märsche, um den Sieg zu verfehlen“) oder eben György Ligeti („Hungarian Rock“). Der Witz beginnt, wie jeder gute Witz, genau da, wo man ihn nicht vermutet: mitten im klassischen, schon fast überinstrumentierten Tschingderassabum läuft die Musik nach einem „Tristan“-Zitat („subito schmachtend“) gewissermaßen in rhythmische Stolperfallen, strauchelt, kämpft sich harmonisch (aber eben auch schon auch lächerlich in ihrer melodiösen Martialitätsmonotonie) wieder hoch, um erneut zu fallen. Auf und nieder, immer wieder. Auf diese Art geht, um T. S. Eliot zu paraphrasieren, die Welt unter: nicht mit einem Knall, sondern mit einem Knacken, das der Dirigent Sylvain Cambreling am Ende in der hohlen Hand produziert.

Erinnerung an „Winter-Bayreuth“

Auf ironisch-sarkastische-liebevolle Art und Weise ist dieser „Marche fatale“ der zeitgemäße Dank und Gruß eines Komponisten, der dem Stuttgarter Staatsorchester vollkommen zu Recht ein besonders hohes Identifikationsvermögen und generell Vielseitigkeit bescheinigt. Unter Beweis gestellt hat es dies in Lachenmanns Fall unter anderem bei der diffizilen und bewusstseinserweiternden Arbeit an dessen Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im Jahr 2001 (Dirigent damals: Lothar Zagrosek). Lachenmann rechnet die Lebensperiode persönlich bis heute zu „einer der glücklichsten Zeiten“ jemals. Jedenfalls: Selbst die furios musizierte Fünfte von Beethoven (mit herrlicher Solooboe und packenden Hörnern) hatte später noch gelinde Schwierigkeiten, im Gehörgang an diesem Marsch vorbeizukommen.

Den Rest des Programms hatten der Dramaturg Rafael Rennicke (von dem auch das detaillierte Jubiläumsprogrammbuch stammt) und der Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling sprechend aufeinander bezogen. Brillant und im Moment da (schon hier mit sattem Streicherklang und exzellenten Bläsern) war das Staatsorchester mit dem eröffnenden Vorspiel zum dritten Aufzug im „Lohengrin“, das sofort ganze Assoziationswelten öffnete: „Winter-Bayreuth“ wurde lebendig, und wer im Jubiläumsbuch schon zu Seite 81 vorgedrungen war, sah ein vergilbtes Telegrammblatt vor sich, das der Dirigent Carlos Kleiber 1969 nach einer Vorstellung an das „Wuerttembergische Staatsorchester“ von der Bahnhofspost und direkt nach einer Vorstellung schickte: „Bin von Ihrem herrlichen Musizieren bei ,Tristan‘ begeistert und bewegt – Ihr dankbarer C. K.“). Das hatte was. Hat noch was.

Innerhalb kurzer Zeit „umschalten“ zu müssen von einem Klangideal zu einem anderen ist Reiz und Risiko zugleich für ein Opernorchester: Wie es mustergültig geht, bewies das Staatsorchester, als es nach dem gleißenden Wagner sofort Giuseppe Verdis vertrackt dunkle Farben mischte und genau dessen Ton traf: das Liedhafte, Lokale – ein anderes Lebensgefühl.

Ganz in seinem Element schließlich war Sylvain Cambreling in der Jagdpartie „Chasse Royale et orage“, aus Hector Berlioz’ „Les Troyens“, wo der Wind äußerst subtil durch den Wald fuhr. Der Laudatio des Intendanten Jossi Wieler folgte schließlich Mozarts „Nehmt meinen Dank, ihr holden Gönner“ und Richard Strauss’ „Liebeshymnus“, beide Partien innig gestaltet von Mandy Fredrich. So war die Orchesterfeier in einer Weise würdig und stimmig, wie sie einer besonderen schwäbischen Institution angemessen ist: Man zeigt sein Können und seine Originalität her, ohne sich über die Maßen etwas darauf einzubilden. Das Stuttgarter Publikum wusste und weiß das stets zu schätzen. Es gibt Beifall, in dem sich äußerste Dankbarkeit und leiser Stolz mischt.