Nach dem Anschlag in Halle ist auch in Stuttgart die Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern groß. Die Vorstandssprecherin der Gemeinde sieht auch im Land Sicherheitslücken.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Es ist der Tag der Sühne und der Versöhnung, der Abschluss von zehn Tagen der Reue und Umkehr nach dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Auch die Synagoge im Stuttgarter Hospitalviertel war an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, voll. Um 9.30 Uhr hatte der Gottesdienst begonnen, an dem mehr als 300 Gläubige teilnahmen. In diesen Tag der Ruhe und Einkehr platzte am Mittwoch die Nachricht von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle.

 

Diesmal hat die Polizei schnell reagiert

„Wir waren alle sehr bestürzt“, beschreibt Rabbiner Yehuda Pushkin die Gefühlslage. „Die Gemeindemitglieder sind sehr besorgt.“ Pushkin und die Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), Barbara Traub, sind angesichts der schrecklichen Ereignisse dankbar für die Solidarität, die am Mittwoch nach dem Abendgebet etwa zwei Dutzend Menschen vor der Synagoge zeigten. Darunter waren auch der Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) und der Antisemitismus-Beauftragte in Baden-Württemberg, Michael Blume. „Das gibt einem ein warmes Gefühl, wenn es einen auch nicht beruhigt“, sagt Rabbiner Pushkin.

Er glaubt trotz des Anschlags nicht, „dass die Besucher in den Gottesdiensten weniger werden“. Von Angst der Menschen will der Rabbiner nicht sprechen. „Aber man ist wachsamer“. Ratschläge, etwa ob man die Kippa noch offen tragen solle, wollen Traub und Pushkin nicht erteilen. Dies hänge von der persönlichen Gefühlslage ab. Barbara Traub sieht bei der Sicherheit jüdischer Einrichtungen Nachholbedarf. „Das Niveau ist im Land sehr unterschiedlich, da wäre einiges zu verbessern“, sagt die Vorstandssprecherin. Dies betreffe die Ausstattung, aber auch die Anwesenheit von Sicherheitskräften. Je nach Lageeinschätzung sei die Polizeipräsenz kontinuierlich oder auch nur sporadisch. Nach dem Anschlag in Halle habe die Polizei aber „sehr schnell reagiert“, lobt Traub.

Tabubrüche nicht nur im Internet

Man stelle seit einigen Jahren eine Stimmungsveränderung gegenüber jüdischen Menschen und Einrichtungen fest, erklärt Traub. Vor allem in den sozialen Medien habe sich „das Klima verschärft“. Auch in der Politik gebe es „Tabubrüche“. Die im Land registrierten antisemitischen Straftaten haben von 2017 auf 2018 von 99 auf 136 zugenommen, plus 37 Prozent.

Ali Ipek, der Koordinator des Rats der Religionen in Stuttgart, sprach von einer „feigen Tat“, wieder habe sich „die Fratze des Antisemitismus“ gezeigt. Der Anschlag in Halle stehe in einer Reihe von Angriffen gegen jüdische Menschen. Den Weg hätten auch „geistige Brandstifter“ geebnet, kritisierte Ipek, der Referent für interreligiöse Zusammenarbeit des Moscheeverbands Ditib in Württemberg ist. „Wird eine Religionsgemeinschaft angegriffen, werden alle angegriffen.“ Dem Rat gehören 20 Religionsgemeinschaften an. Dieser stehe „in Solidarität an der Seite unserer jüdischen Geschwister“. Auch der Ditib-Landesverband äußerte sich „zutiefst bestürzt über den Anschlag auf die Synagoge“. Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July sprach von der „Schandtat von Halle“. Er betonte: „Antisemitismus ist Gotteslästerung.“ Der in Fellbach lebende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschlands, Gökay Sofuoglu, erklärte: „Dass Gewalt und Hass in Worten und Taten gegenüber Menschen jüdischen Glaubens nach wie vor einen Boden in Deutschland haben, ist unerträglich.“

Rund 2800 Mitglieder in Württemberg

Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg hat insgesamt rund 2800 Mitglieder. In Stuttgart sind es etwa 1750 Personen, mit denen, die im Umland nach Stuttgart orientiert sind, circa 2000; dazu kommen etwa 280 Mitglieder in Esslingen, rund 300 in Ulm, die weiteren verteilen sich auf die Bereiche in und um Heilbronn, Aalen, Reutlingen, Weingarten und Schwäbisch Hall.