Die Gedenkstunde vor der Synagoge zur Erinnerung an das Reichspogrom stand am Anfang der Jüdischen Kulturwochen. Bei der Eröffnung ging die Literaturwissenschaftlerin Rachel Salamander auch auf die neuen Herausforderungen für die Gemeinden in Deutschland ein. Bis zum 20. November gibt es zahlreiche Veranstaltungen.

Ein Mädchen, das mit seinen Eltern schon im Jahr 2014 vor den russischen Angriffen im Donbass nach Stuttgart geflohen ist und jetzt in der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) Bat-Mizwa, das Fest der religiösen Mündigkeit, feiern konnte. Ein junges Paar aus der Ukraine, das Zuflucht vor dem Krieg gefunden hat und bald heiratet: „Sie haben sich für die Zuversicht entschieden“, ging Barbara Traub, die Vorstandssprecherin der IRGW, bei der Eröffnung der Jüdischen Kulturwochen auf das Motto „Was kommt?“ ein.

 

Gemeinde steht vor Herausforderungen

Man könne die Frage bang oder voller Zuversicht stellen, auf jeden Fall sehe sich die jüdische Gemeinschaft auch vor dem Hintergrund von Krieg und Krise vor neuen Herausforderungen. Diesem Themenspektrum widmen sich die Jüdischen Kulturwochen bis zum 20. November mit 39 Veranstaltungen. Dass wieder 20 Stuttgarter Kulturinstitutionen beteiligen, zeige den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft und mache Mut. Auf diese Solidarität hunderter teilnehmender Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger kann die jüdische Gemeinde auch bei der Gedenkstunde an diesem Mittwoch, der 84. Wiederkehr der Nacht des Reichspogroms am 9. November 1938, vor der Synagoge zählen. Erinnert wird an die Opfer der Menschheitsverbrechen an den deutschen und europäischen Juden. (18 Uhr, Hospitalstraße).

Bedeutung der jüdischen Kultur

Jüdisches Leben und jüdische Kultur seien ein und dasselbe, betonte Mark Dainow, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Vielfältig, weil immer die Kultur des jeweiligen Landes implantiert werde, reichhaltig und „überwiegend positiv, auch wenn wir das Negative nicht ausblenden“. Man suche den Dialog, „und der ist gerade in Stuttgart möglich“. Für die Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer sind die Kulturwochen auch immer ein Anlass der schmerzlichen Erinnerung: „Sie machen bewusst, was wir durch den Holocaust alles an Kultur verloren haben, denn es waren die Besten, die vertrieben und ermordet wurden.“ Umso wichtiger sei es, dass dieser Reichtum wieder auflebt und Teil der Kultur in Deutschland ist. Auch dank einer Persönlichkeit wie Rachel Salamander: „Sie hat den Samen gelegt, der aufgegangen ist und jetzt blüht und gedeiht.“

Neues Zuhause wurde „Judenhaus“ genannt

„Ich hoffe, ich habe ein Samenkorn gelegt“, ging Rachel Salamander auf das Zitat von Isabel Fezer ein. Leben und Wirken der Literaturwissenschaftlerin, Buchhandels-Unternehmerin und Publizistin aus München stehen beispielhaft für die Wieder-Annäherung von Juden und Nichtjuden und das Wieder-Aufleben der jüdischen Kultur im Nachkriegsdeutschland. Geboren 1949 in einem Lager für Displaced Persons in Bayern als Tochter polnischer Überlebender, erlebte sie das Camp als das „letzte Schtetl und Hort der jüdischen Identität“. Der Umzug in die Stadt brachte 1956 neue Erfahrungen, die sie im Gespräch mit der Kulturjournalistin Eva-Elisabeth-Fischer (Süddeutsche Zeitung) schilderte: „Das Haus, in das wir einzogen, war sofort als Judenhaus bekannt.“ 1982 gründete Rachel Salamander ihre Literaturhandlung, „denn ich wollte jüdische Literatur wieder einbürgern und beheimaten.“ Sie habe auch Menschen zusammenbringen wollen. Es ist ihr gelungen, mit Strahlkraft und großer Resonanz. „Wir mussten uns die Gegenwart aneignen, um eine Zukunft zu schaffen.“ Dieses Modell des Umgangs von Juden und Nichtjuden sei ein bewusster Prozess gewesen. Nun stehe die jüdische Gemeinschaft in Deutschland vor neuen Herausforderungen. Weil 11,2 Millionen Menschen in Deutschland nichts mit der deutschen Vergangenheit zu tun haben und weil in den jüdischen Gemeinden die meisten aus Russland und der Ukraine kämen.

Jüdische Kulturwochen Informationen zum Programm unter www.irgw.de/kulturwochen.