Ehrliche Neugier, ehrliches Interesse: Jürgen Domian, dem nichts Menschliches fremd ist, beendet nach 21 Jahren beim WDR seinen nächtlichen Dienst als Zuhörer, Ratgeber und Seismograf der Republik.

Stuttgart - Lore ist in dieser Nacht die letzte Anruferin. Sie ist 91 Jahre alt, ihre Stimme lässt auf eine fitte, hellwache alte Dame schließen. Aber sie sagt gleich zu Beginn: „Domian, mir geht es so wahnsinnig schlecht. Ich würde so gerne sterben.“ Lore hatte vor einigen Wochen, als ihr Mann gestorben war, schon einmal bei dem Nacht-Talker angerufen. 69 Jahre hatten sie und ihr Mann zusammen gelebt, hatten sich „so abgöttisch geliebt“. Ohne ihren Mann hat sie ihren Lebenswillen verloren. Lore redet viel und schnell, man könnte sagen: Es sprudelt aus ihr heraus, als wäre eine Schleuse geöffnet. Gut zehn Minuten reden beide miteinander, in einer persönlichen, fast intimen Atmosphäre, als gäbe es kein Publikum. Am Ende bekennt der Moderator, er könne ihr keinen Rat erteilen, und die höfliche alte Dame entschuldigt sich, „wenn ich dich jetzt wieder belästige mit so was“. Aber sie habe einfach niemanden, „mit dem ich so sprechen kann wie jetzt mit dir“.

 

So ging es offenbar vielen in den vergangenen 21 Jahren. Wer Jürgen Domians Sendung häufiger bei 1 Live hörte oder im WDR-Fernsehen sah, der wusste, wie einsam es in Deutschland sein kann. Natürlich, es hat vor allem in den ersten Jahren die Freaks gegeben mit den extremen Sex-Praktiken. Es gab diejenigen, die religiöse oder politische Botschaften verkünden wollten oder die sich mit erfundenen Geschichten einen Spaß erlaubten. Und Domian selbst betont, seine Sendung sei auch ein Entertainment-Format, bei dem man ebenso gut mit einem Autonarr über seine Escort-Sammlung sprechen könne. Gefragt nach der Geschichte, die ihm selbst in Erinnerung bleibt, antwortet er: „Es gibt nicht die Geschichte, es gibt die Richtung. Am tiefsten geprägt haben mich die Gespräche mit Sterbenden und Trauernden. Oder auch mit Menschen, die in ausweglosen Situationen sind.“ An dieser Stelle des Interviews in einem Kölner Café fällt ihm das Gespräch mit Lore aus der vergangenen Nacht ein. Schwierig sei das gewesen, sagt Domian. Er wirkt nicht ganz zufrieden mit sich, vielleicht weil er immer mehr sein wollte als ein aufmerksamer Zuhörer, kein Seelsorger, aber doch einer, der mit seiner Persönlichkeit für eine Haltung stehen und auch Ratgeber sein wollte. Das konnte man bisweilen irritierend finden, aber die Fragetechnik des Journalisten zeichnete sich durch unvoreingenommene Neugier und ehrliches Interesse aus.

Er sieht sich als „Steppenwolf“

Jürgen Domian wirkt anfangs etwas müde bei dem Interview, denn der Nachmittag ist in seinem Tagesablauf der Morgen. Vor dem Frühstück habe er noch eine halbe Stunde Lichttherapie gemacht, erzählt er. Das ist eine der Methoden, mit denen der 58-Jährige versucht, über den dunklen Winter zu kommen. Drücken so viele traurige Schicksale in der Nacht nicht schwer aufs Gemüt? „Nein, man behält die dramatischen und schweinischen Geschichten in Erinnerung. Aber es gab auch eine Vielzahl lustiger, schräger Momente.“ Die permanente Nachtarbeit und diese Abgesonderheit seien seinem Naturell entgegen gekommen, sagt er. „Das ist meine psychische Disposition: der Steppenwolf“.

Nun aber, nach 21 Jahren und rund 23 000 Telefongesprächen in der Sendung, reicht es. In der Nacht von Freitag auf Samstag, ab 0.50 Uhr, fährt Domian seine letzte Sendung. Er könne das eigentlich noch zehn Jahre machen, „aber ich möchte nicht mehr in der Nacht arbeiten. Ich habe zwei Mal mit Hörsturz moderiert, und meine Ärzte schlagen seit Jahren die Hände über dem Kopf zusammen. Jetzt ist noch alles bestens, aber ich möchte nicht in drei Jahren aus dem Studio getragen werden.“ Talken will er weiterhin, allerdings ist noch offen, ob ein Sender das gemeinsam mit Atze Schröder entwickelte Live-Format vor Publikum ausstrahlen will. Endlich einmal seinen Gesprächspartnern ins Gesicht blicken zu können, ist Domians Wunsch. Schon Anfang der 1980er Jahre, als der Student Jürgen Domian als Kabelträger beim WDR begann, sprach er prominente Gäste beim „Kölner Treff“ oder bei „Bios Bahnhof“ an und organisierte zwei Jahre lang und ohne Gage in Kölner Südstadtkneipen seine eigene Talkshow namens „Einspänner“. Später, als Radiomoderator bei der jungen WDR-Welle 1 Live, legte er mit dem Nachmittags-Talk „Die heiße Nummer“ die Grundlage für das 1995 ins Leben gerufene Nacht-Format „Domian“.

Das SPD-Mitglied kritisiert seine „linken Freunde“

Dieser Dauerbrenner hat nicht zuletzt den Moderator selbst geformt. Er schrieb mehrere Sachbücher und zwei Romane, unter anderem über einen Mann, der plötzlich alleine auf der Welt ist und im Dunkeln sitzt („Der Tag, an dem die Sonne verschwand“). Ein dritter Roman, der im Herbst 2017 erscheinen soll, ist in Arbeit. Hilft es im Kampf gegen die Einsamkeit, einen Nacht-Talk zu moderieren? „Nein, aber er hilft bei der Suche nach dem rechten Weg.“ Er sei im Laufe der Jahre demütig, viel geerdeter und solider geworden. „Wie oft habe ich im Studio über Anrufer gedacht: Was für eine tapfere, starke Person! Ich würde das in meinem Leben nicht so hin bekommen.“

Immer wieder wurden Anrufer an die im Hintergrund anwesenden Psychotherapeuten verwiesen, aber mehr noch als eine Therapiestunde war der nun zu Ende gehende Domian-Talk eine Art gesellschaftlicher Seismograf, weil kein Thema tabu war und die Anrufer anonym bleiben konnten. So hätten sich in den vergangenen Jahren zunehmend Menschen mit Migrationshintergrund gemeldet, sagt Domian. Darunter auch schwule Muslime, die um ihr Leben fürchten, oder Frauen, denen Zwangsverheiratung drohen. Das SPD-Mitglied Domian kritisiert bei der Gelegenheit „meine linken Freunde“, weil die sich zwar für die Rechte von Frauen und Schwulen einsetzen, „aber wie die Verhältnisse in der muslimischen Community sind, wird völlig ausgeblendet“. Politisch korrekt will Domian keinesfalls sein. Dass erstmals in seiner Sendung ein Anhänger der Pegida-Bewegung zu Wort gekommen sei, versteht er offenkundig nicht als Makel. „Wir haben schon sehr früh gespürt“, sagt Domian, „was heute mit dem Begriff ,Lügenpresse’ zum Ausdruck gebracht wird, nämlich dass es Menschen gibt, die sich ausgeschlossen fühlen von der politischen Meinungsbildung und dann eben zu einem solch abstrusen Begriff greifen.“

Das veränderte Klima bekommen auch er und seine Redaktion zu spüren. Der Anrufer Mustafa (19) kam vor fast vier Jahren nach Deutschland, als unbegleiteter Flüchtling aus Afghanistan. Domian befragt ihn nach seiner Flucht und dem Leben hier. Aber sein Anrufer hat noch ein besonderes Anliegen. Am Ende will Mustafa Stellung beziehen zum Mord an der Freiburger Flüchtlingshelferin. „Wenn ich da wäre, hätte ich die Mädchen geholfen, auch wenn ich meine Leben verlieren könnte, hätte ich sie geholfen“, sagt er in einem noch etwas gebrochenen Deutsch. „Sie können sich nicht vorstellen, wie wir beschimpft worden sind, weil wir das Gespräch angeblich inszeniert hätten, um gute Stimmung für Flüchtlinge aus Afghanistan zu machen“, erinnert sich Domian fassungslos.

Nun spricht er auch von Angst. Weil die Hetze im Netz den Kern vieler Menschen offenbare. „Die gehen mit einer Maske durch die Straßen, und zu Hause allein am PC zeigen sie ihr wahres Gesicht.“ So fällt sein Rückblick eher gemischt aus. „Mein Menschenbild ist durch die Sendung kritischer geworden,“ erklärt Domian. „Aber es gibt auch die sehr helle Gegenseite.“