Jürgen Klinsmann über die Stuttgarter Kickers „Auch in einer veränderten Fußball-Landschaft gibt’s Platz für die Kickers“

Jürgen Klinsmann beim Besuch eines Kickers-Heimspiels – am kommenden Samstag zum 125. Geburtstag kann er leider nicht im Stadion sein. Foto: imago/Sportfoto Rudel/imago sportfotodienst

Die Zeit bei den Stuttgarter Kickers hat Jürgen Klinsmann geprägt. Zum 125-Jahr-Jubiläum spricht der Ex-Bundestrainer über seine Verbindung zu den Blauen, die Entwicklung des Vereins, aber auch über den VfB, Heidenheim und die Nationalelf.

Sport: Jürgen Frey (jüf)

Die Stuttgarter Kickers empfangen an ihrem 125. Geburtstag am Samstag (14 Uhr/Gazi-Stadion) in der Regionalliga den FSV Frankfurt. Jürgen Klinsmann (60) verfolgt seinen Ex-Club aus der Ferne weiter mit Interesse. Vor dem Jubiläum beantwortet der in den USA lebende Welt- und Europameister unsere Fragen.

 

Herr Klinsmann, können die Blauen Sie persönlich anlässlich der Feierlichkeiten rund um 125 Jahre Stuttgarter Kickers begrüßen?

Leider nicht. 9500 Kilometer sind halt doch eine zu große Entfernung.

Welche Kontakte pflegen Sie noch zu den Kickers?

Immer noch einige – und die sehr intensiv. Natürlich am engsten bei Treffen oder Gesprächen mit Guido Buchwald, Ralf Vollmer oder Karl Allgöwer, ab und zu eine Whatsapp mit dem Präsidenten, und dann gibt es inzwischen regelmäßige Treffen mit einer meiner früheren Jugendmannschaften bei den Kickers. Das ist immer wieder richtig schön.

Was verbinden Sie mit dem Verein?

Wahrscheinlich die unkomplizierteste Zeit meiner Karriere, aber auch eine sehr prägende. Ich habe in meiner Zeit bei den Kickers viel gelernt – nicht nur im Fußball, sondern auch fürs Leben. Personen wie Axel Dünnwald-Metzler oder Dieter Renner haben da ihren Teil dazu beigetragen. Wenn man jung ist, merkt man das vielleicht nicht so. Aber heute weiß ich, dass ich in dieser Zeit viel gelernt habe.

Wie haben Sie es aus der Ferne aufgenommen, dass in der vergangenen Regionalliga-Saison ein Zehn-Punkte-Vorsprung verspielt wurde und der VfB Stuttgart II in die dritte Liga aufstieg?

Im Fußball gibt es immer wieder Ereignisse, die man zuvor für unvorstellbar gehalten hat. Leider haben die Blauen diese große Chance nicht nutzen können. Über Ursachen und Gründe kann ich leider nicht urteilen – da bin ich viel zu weit weg.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Blauen?

Ich finde vor allem die Zahlen der Kickers bemerkenswert. Der Zuschauerschnitt, die Dauerkarten – das alles zeigt, dass es auch in einer völlig veränderten Fußball-Landschaft einen Platz für die Kickers gibt.

Komplett veränderte Nachwuchsarbeit

Was hat sich denn verändert in der Nachwuchsarbeit, für die die Kickers, ja immer auch dank Ihrem Namen, berühmt war?

In den vergangenen Jahren nahezu alles. Zu meiner Zeit gab’s für einen talentierten Jugendspieler nur den VfB – oder die Kickers. Für die Talente zwischen Ulm und Mannheim blieb nur der Weg nach Stuttgart. Das A-Jugend-Derby der beiden Vereine war ein Schlagerspiel mit mehr als 1000 Zuschauern. Heute? Da gibt es schon im jüngeren Bereich Internate, Fahrdienste, Stützpunkte, Abwerbung. Und vor allem gibt es im erwähnten Gebiet Vereine wie Hoffenheim, Heidenheim, Freiburg, Karlsruhe, Augsburg, Ulm – die fischen alle im gleichen Gewässer. Das bringt dann von klein auf eine ganz andere Fußball-Kultur, die sich natürlich auch auswirkt.

Die Kickers sind die zweite Kraft in der Stadt. Wie sollte der weitere Weg grundsätzlich aussehen?

Die Blauen brauchen ganz bestimmt nicht die Ratschläge von einem, der weit weg ist. Sie kennen ihren Weg. Grundsätzlich ist es natürlich schon am besten, wenn man diesen Weg nicht verlässt. Aber wie der aussieht, wissen die Kickers am besten.

Großer Respekt vor 1. FC Heidenheim

Der 1. FC Heidenheim spielt in der Conference League. Ihre Mutter ist zehn Kilometer entfernt vom Stadion aufgewachsen. Was sagen Sie zur Entwicklung dieses Vereins?

Sensationell. Dass ich in Los Angeles mal ein Spiel von Heidenheim im Fernsehen angucken kann (Anm. d. Red.: Qualifikationsspiel zur Conference League) – damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Die Verantwortlichen haben etwas Großartiges geschafft: Sie haben einen Verein aufgebaut, der der Mentalität der Menschen in der Region entspricht. Geradeaus, ehrlich, fleißig, schaffig, konsequent – das ist absolute Spitzenklasse. An den entscheidenden Stellen sitzen Leute, die aus der Region kommen, die zusammenarbeiten, die ihr eigenes Ego zurückstellen, und vor allem haben sie in ihrem Verein eine DNA, der alles untergeordnet wird. Damit kann man einiges ausgleichen.

Der VfB Stuttgart misst sich mit den ganz Großen der Branche in der Champions League. Welche Rolle trauen Sie dem VfB in der Königsklasse und in der Liga zu?

Es ist ja phänomenal, dass sich der VfB jetzt mit Real Madrid oder Paris Saint-Germain misst. Der Auftakt in Madrid war ja schon absolut top. Die Spieler und der Trainer haben gezeigt, dass sie keine Angst haben. Und in der Champions League ist immer einiges möglich, weil sie sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und weil es zudem einen neuen Modus gibt. Man muss dort vor allem zur rechten Zeit auf den rechten Gegner treffen – dann kann man einiges erreichen.

„Talente, um die uns die Welt beneidet“

Die Nationalmannschaft ist bei der Heim-EM im Viertelfinale ausgeschieden. Trainer Julian Nagelsmann hat für 2026 den WM-Titel als Ziel ausgegeben. Wie realistisch ist dies und wie sehen Sie grundsätzlich die Entwicklung?

Das kommt mir bekannt vor (lacht). Es gab schon einmal einen Trainer, der im Jahre 2004 gesagt hat, unser Ziel ist der WM-Titel. Es gibt halt Trainer, die geben das Höchste als Ziel aus. Auch ich finde, Deutschland als Fußball-Nation kann niemals antreten und sagen: Unser Ziel ist das Erreichen des Viertelfinales. Wir treiben in diesem Sport alle einen so großen Aufwand – das machen wir, um Spiele und Titel zu gewinnen. Und zudem haben wir einige Talente im Team, um die uns die ganze Welt beneidet.

Was wünschen Sie den Kickers zum 125. Geburtstag?

Viel Spaß und viel Freude. Viele schöne Stunden und auch eine tolle Zukunft. Und die werden sie haben, wenn sie sich treu bleiben.

Jürgen Klinsmann – der Weltbürger

Karriere
Jürgen Klinsmann wurde am 30. Juli 1964 in Göppingen geboren. Nach vier Jahren beim SC Geislingen spielte er von 1978 bis 1984 für die Stuttgarter Kickers. Nach einem umkämpften Jugend-Derby gegen den VfB Stuttgart sagte Klinsmann dem damaligen Kickers-Präsidenten Axel Dünnwald-Metzler über den Stadtrivalen: „Eines schwöre ich: Zu denen gehe ich nie.“  1984 wechselte Klinsmann dann doch zum VfB, dem er bis 1989 treu blieb. In 156 Spielen erzielte der Stürmer 79 Tore für die Weiß-Roten.  Von 1989 bis 1992 spielte Klinsmann für Inter Mailand und wurde 1990 Weltmeister (1996 auch Europameister). Nach der Zeit beim AS Monaco (1992 bis 1994) folgte ein kurzes Intermezzo bei Tottenham Hotspur, ehe sich der Stürmer von 1995 bis 1997 dem FC Bayern anschloss. 1997 kehrte Klinsmann nach Italien zurück und spielte für Sampdoria Genua, wurde jedoch an Tottenham ausgeliehen. 2003/04 klang seine Spielerkarriere in den USA bei den Orange County Blue Stars aus.  Von 2004 bis 2006 war Klinsmann Bundestrainer und landete bei der Heim-WM 2006 auf dem dritten Platz. Von 2008 bis 2009 trainierte er den FC Bayern, von 2011 bis 2016 war der Wahl-Amerikaner Nationaltrainer der USA. Von November 2019 bis Februar 2020 coachte er Hertha BSC, von 2023 bis Februar 2024 die Nationalmannschaft Südkoreas.

Persönliches
Klinsmann ist seit 1995 verheiratet mit Debbie, das Paar lebt in Kalifornien und hat zwei gemeinsame Kinder. Sohn Jonathan, aktuell als Torwart beim norditalienischen Club Cesena FC unter Vertrag, kam 1997 in München zur Welt, Tochter Laila wurde 2001 geboren. Klinsmann hat bereits 1995 gemeinsam mit Freunden die Stiftung Agapedia gegründet, die Projekte zur Förderung von hilfsbedürftigen und Not leidenden Kindern aufbaut. (jüf)

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