Vor dem Nato-Gipfel in Brüssel geht der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin scharf ins Gericht mit der Kanzlerin. Dass das Bündnis Fähigkeitslücken hat, hält er für ein Märchen, die finanziellen Ziele für „Bullshit“. Ein Versagen Angela Merkels erzürnt ihn besonders.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Beim Gipfel in Brüssel beraten zwei Tage lang die Regierungschefs der Nato. Es geht ums Geld, um die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit und neue Gefahren auf der Welt.

 
Herr Trittin, wie sind Ihre Erwartungen an das Treffen der Staatschefs?
Ich erwarte mehr vom Falschen bei diesem Gipfel. Statt sich auf ihre Kernkompetenz als Verteidigungsbündnis zu konzentrieren, droht der Nato eine massive Überdehnung. Die aktuelle Debatte krankt an einer gefährlichen Aufrüstungslogik und der Suche nach neuen Aktivitäten wie beim Cyberwar. Für die wirklich gefährlichen Konflikte aber hat die Nato keinen Plan und keine Kompetenz.
Wird der Streit um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP in Brüssel eskaliert?
Beigelegt werden wird er nicht, daran hat gerade Donald Trump kein Interesse. Ich warne davor, sich auf diese Debatte weiter einzulassen. Die europäischen Nato-Mitglieder geben doch heute schon zusammen drei Mal so viel Geld aus wie Russland, die Nato insgesamt sogar mehr 14mal so viel. Die Nachrüstlücke ist eine Fiktion.
Die Allianz begründet ihre Investitionserhöhungen mit der veränderten Sicherheitslage – Russlands Annexion der Krim, Destabilisierung in der Ostukraine, IS und eine wachsende Zahl von Cyberangriffen. Alles reine Propaganda?
Wenn es das nicht ist, dann ist es gefährliche Naivität. Ich kenne niemanden, der glaubt, dass man den Konflikt in der Ost-Ukraine militärisch lösen kann. Die Nato kann hier nichts zu einer Lösung beitragen, höchstens zur Eskalation. Und was den IS angeht, wird doch anders herum ein Schuh draus. Der IS ist doch überhaupt erst entstanden durch eine völkerrechtliche illegitime und militärisch schlussendlich gescheiterte Invasion im Irak - durch die USA und einer Koalition der Willigen. Deutschland hat sich dem damals aus guten Gründen entgegen gestellt.
Wird die Bundesregierung, weil sie das Zwei-Prozent-Ziel nicht einhält, bei diesem Gipfel endgültig zum Prügelknaben von US-Präsident Donald Trump?
T rump hält Europa erklärtermaßen schon für schlimmer als China, wenn es um den von ihm vom Zaun gebrochenen Handelskrieg geht. Für ihn ist die dumpfe Zwei-Prozent-Forderung eine Fortsetzung des Handelskriegs mit anderen Mitteln. Eine durch höhere Verteidigungsausgaben geschwächte deutsche Volkswirtschaft passt ihm sehr gut in den Kram. Also wird er weiter vor allem auf Wirtschaftskraft Deutschland einschlagen.
Haben Sie deswegen ein wenig Mitleid mit der Kanzlerin?
Überhaupt nicht. Die Kanzlerin hat bis heute keine Antwort auf Trump gefunden. Wir brauchen endlich eine klare Haltung und eine klare Ansage an Trump: Wir lassen uns nicht erpressen, das Zwei-Prozent-Ziel ist Bullshit. Wir müssen uns vor allem bei ziviler Krisenprävention und Krisenlösung in Europa stärker aufstellen.
Nicht nur Trump auch Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagt, dass Deutschland mehr in seine Verteidigungsfähigkeiten investieren muss.
Herr Stoltenberg gefällt sich immer mehr als Lautsprecher des US-Präsidenten in dieser Frage. Das ist wenig souverän. Dass Deutschland alleine einen Verteidigungsetat wie Russland haben soll - und nichts anderes heißt das ja - ist eine absurde Vorstellung.
Sind Sie besorgt, dass das Bündnis wegen des Streits ums Geld auseinanderfallen könnte?
Man soll niemals nie sagen. Aber die gegenseitigen Abhängigkeiten und die gemeinsamen Interessen sollten eigentlich überwiegen. Man ist ja trotzdem aufeinander angewiesen. Ohne die US Präsenz in Europa könnten die USA nicht weltweit Einsätze fahren. Aber Trump wird diese erpresserische Debatte einzig aus der Frage führen, was sie ihm innenpolitisch nutzt.
Trump wird wenige Tage nach dem Nato-Gipfel Russlands Präsidenten Putin in Helsinki treffen - fürchten Sie, dass sich dort zwei Risikofaktoren gegenseitig verstärken?
Nein. Beide haben ja mehrfach erklärt, dass sie eine Menge voneinander halten. Aber mehr als Show wird dabei nicht herauskommen. Trump hat innenpolitisch keinen Spielraum für Deeskalation.