Thomas Ostermeier hat mit Horváths „Jugend ohne Gott“ das Schauspiel der Salzburger Festspiele eröffnet. Jörg Hartmann, Kommissar aus dem Dortmunder „Tatort“, spielt darin einen skrupulösen Lehrer, der angewidert auf seine faschistisch verrohten Schüler blickt.

Stuttgart - Schon die ersten Sätze des Abends treffen ins Mark: „Was verdanke ich Adolf Hitler? Diese Frage ist leicht zu beantworten: alles“, sagt der Schauspieler Jörg Hartmann, der jetzt noch keine Horváth-Figur verkörpert, sondern den realen Horst R. aus Braunschweig, der 1935 einen Brief an den „geliebten Führer“ schreibt. In allerletzter Stunde habe Hitler die Deutschen vor dem Abgrund zurückgerissen und ihm selbst, dem Briefschreiber, wieder Arbeit gegeben, heißt es in den von aufrichtigem, glühendem Dank durchdrungenen Zeilen. Hartmann trägt sie sanft und ruhig als freundliche Einladung zur Zustimmung vor, als süße Verführung zum Bösen, der nur schwer zu widerstehen ist – und schon hat die Inszenierung von „Jugend ohne Gott“ bei den Salzburger Festspielen ihr Thema gefunden: Wie bleibt man human inmitten einer Gesellschaft, die immer barbarischer wird? Woher schöpft man die Kraft und die Zivilcourage, um nicht selbst zum Barbaren zu werden?

 

Das ist die Frage, die Ödön von Horváth in seinem 1937 erschienenen Roman beleuchtet. Er selbst lebte damals bereits im Pariser Exil, denn die Nazis hatten ihre Diktatur zum Wohlgefallen dankbarer Untertanen schon längst in aller Perfektion errichtet. Heute haben sie es noch nicht so weit gebracht, weder in Deutschland noch Europa, aber der Regisseur Thomas Ostermeier will den Anfängen wehren. „Jugend ohne Gott“ ist eine Koproduktion mit der Berliner Schaubühne, deren Intendant er ist – und mit Horváth im Salzburger Landestheater setzt er fort, was er in seinem Stammhaus seit geraumer Zeit systematisch betreibt: die Beschäftigung mit dem Rechtspopulismus und dem Mechanismus, der Menschen zu Mitläufern und Opportunisten macht.

Wehrübungen im Zeltlager

Während Jörg Hartmann also noch den Volksgenossen Horst R. spielt, verwandelt er sich auch schon in den 34-jährigen Gymnasiallehrer, der mit seinen humanistischen Idealen in die innere Emigration gegangen ist. Das Horváth-Stück beginnt und damit die Geschichte des Ich-Erzählers, der auf seine von den Eltern, vom Radio, von der Propaganda verseuchten Schüler nur mit angewidertem Staunen blicken kann: „Alles Denken ist ihnen verhasst. Sie wollen Maschinen sein, doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten“ – und als ihm im Unterricht trotz aller Vorsicht eine Äußerung unterläuft, die nicht zur NS-Ideologie passt, wird er von den kriegslüsternen Schülern denunziert. Noch kann er sich halten, doch er fällt moralisch, als er mit seiner Klasse ins vormilitärische Zeltlager fährt: Um einem Diebstahl auf die Spur zu kommen, liest er heimlich im Tagebuch des Schülers Z – ein erster Sündenfall, dem ein zweiter folgt, weil er sein Vergehen verheimlicht und deshalb mitschuldig wird am Rachemord, dem der Schüler N zum Opfer fällt.

Behutsam zeichnet Ostermeier die sich ausdifferenzierende Geschichte nach. Es ist ja nicht nur das Selbstbild des Lehrers, das unterm Druck der Verhältnisse erschüttert wird, sondern auch das Pauschalbild, das er sich von den Schülern gemacht hat – und obwohl einige nicht kalt und niederträchtig sind, sondern sich in empathische Geheimzonen zurückgezogen haben, lässt sich das Unheil nicht aufhalten. Mit Horváth gleitet auch Ostermeier von der Sozialkritik zur Religionskritik, von den Nazis zum strafenden Gott, der sich mit dem Bösen in der Welt abgefunden hat: Die Seelen sind tot wie die fahlen Bäume auf der dämmrigen Bühne von Jan Pappelbaum, die dem sonst hochpräzisen Realismus dieser sensiblen Gesellschafts- und Menschenerkundung etwas entrückt Gespenstisches gibt, als wäre man auf dem Grund des Meeres.

Und im Zentrum der Inszenierung und des achtköpfigen Ensembles: Jörg Hartmann, der psychopathische Kommissar aus dem Dortmunder „Tatort“, der seinen Lehrer in Gedanken einspinnt, introvertiert, fragil, verhangen, leise. Kein falscher Ton, nirgends – nicht zuletzt ihm ist dieser starke Auftakt des Schauspielprogramms der Festspiele zu verdanken.