Mit der kulturellen Integration hapert es in Südafrika gewaltig. Das Miagi-Jugendorchester, das derzeit durch Europa tourt, zeigt aber, wie sich Gegensätze vereinbaren lassen.

Johannesburg - Das Aussichtsdeck des Johannesburger Flughafens hat den Charme einer verwaisten Tiefgarage, aber jetzt pulsiert hier das Leben. In dem verglasten Raum, an dem Angehörige oft mit verheulten Augen den Flugzeugen nachstarren, haben sich 70 ausgelassene junge Leute aller Provenienz und Hautfarbe eingefunden: Sie kichern, kreischen und fallen sich immer wieder aufgeregt in die Arme. „Es ist das erste Mal, dass ich ins Ausland reise“, sagt der 26-jährige William Nobela aus dem südafrikanischen Provinzstädtchen Mokopane: „Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin.“

 

Gemeinsam sind der bunten Truppe nur die ungewöhnlich geformten Gepäckstücke: Cellokästen, eingehüllte Tubas oder Kontrabassbogen-Container. Sie geben die Gruppe als Angehörige einer in Südafrika seltenen Subspezies zu erkennen: klassische Musiker, die sich in wenigen Stunden auf große Tournee begeben werden. „Ich bin so stolz darauf, meine Heimat und alles, wofür Südafrika steht, in Europa repräsentieren zu können“, sagt William, der Cellist: „Und wem verdanken wir das? Nelson Mandela.“ An diesem Mittwoch jährt sich der Geburtstag des Gründers der Regenbogennation zum 100. Mal: Anlass für das Jugendorchester Miagi, zu einer sechswöchigen Tour in die Alte Welt aufzubrechen. Das philharmonische Ensemble wird in fünf europäischen Ländern insgesamt 16 abendfüllende Konzerte geben: Unter anderem in der Hamburger Elbphilharmonie, dem Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt und dem Ludwigsburger Forum am Schloss. Geübt wird in der Musikakademie im hessischen Schlitz.

„Wir sind die Keimzelle einer neuen Nation“, sagt der Miagi-Gründer Robert Brooks

„Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagt der Gründer der Regenbogen-Philharmoniker Robert Brooks strahlend: Wie die Geschichte des Miagi-Orchesters überhaupt etwas Wunderbares an sich hat. Dass junge Südafrikaner unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zusammen Musik machen – noch dazu klassische –, ist am Kap der Guten Hoffnung alles andere als selbstverständlich: Mit der kulturellen Integration hapert es noch immer gewaltig. Dabei bringe Menschen „nichts enger und natürlicher zusammen als Musik“, sagt Brooks: „Wir sind die Keimzelle einer neuen Nation.“

Thembinkosi Mavimbela war schon bei der ersten europäischen Miagi-Tournee 2009 dabei. Der Kontrabassist stammt aus einem der trostlosen Reservate für schwarze Südafrikaner: Sein Vater war Organist in einer Kirche, er selbst wurde als Sänger-Talent entdeckt. Nach dem Abitur nahm ihn die Johannesburger Witwatersrand-Universität als einen der ersten schwarzen Südafrikaner zum Gesangsstudium auf: Dort wurde ihm mitgeteilt, dass er auch ein Instrument beherrschen müsse. Er entschied sich fürs Cello – nur um zu erfahren, dass ein solches nicht zur Verfügung stehe. Dagegen verstaube im Abstellraum ein Kontrabass.

„In Südafrika gibt es so viel zu tun“, sagt Robert Brooks

Also übte sich Mavimbela auf dem Bass: Und weil er für Privatunterricht kein Geld hatte, autodidaktisch. Als er später Unterricht nahm, habe er vieles von vorne lernen müssen: Seine selbst erlernte Technik habe einiges zu wünschen übrig gelassen, sagt Mavimbela lachend. Trotzdem brachte er es schon in wenigen Jahren zur Meisterschaft: Er gab sein Gesangstudium auf und widmete sich ausschließlich dem Kontrabass. Heute nimmt der Profi samstags ein Jazzalbum im Studio des staatlichen Rundfunksenders SABC auf und spielt sonntags mit einem klassischen Orchester eine Mahler-Sinfonie. „Spaß macht beides auf seine Weise.“ Schon die ersten vier Miagi-Touren seien „großartig“ gewesen, erzählt er: „Die Leute mögen uns.“ Das sei wohl vor allem der Energie des afrikanischen Ensembles zuzuschreiben: „Europäische Orchester sind doch meistens ein bisschen steif.“

Dagegen kann es bei einem Miagi-Auftritt passieren, dass die Musiker zu swingen oder gar zu tanzen anfangen und die Zuhörer zwischen den Sätzen Beifall klatschen – vor allem, wenn das Ensemble von klassischen zu jazzigen oder afrikanischen Kompositionen übergeht. „Dann werden auch die Zuhörer von unserer Energie angesteckt“, sagt Mavimbela: „Das ist das Schönste, was man erleben kann.“

Robert Brooks hat sein Gesangstudium nicht wie Mavimbela an den Nagel gehängt: Der Tenor verließ einst seine Heimat, um seine Ausbildung im Salzburger Mozarteum fortzusetzen. Insgesamt 23 Jahre lang lebte der weiße Südafrikaner in Österreich, sang Opern, Kantaten und Lieder – bis ihn im neuen Millennium die Heimat rief. Brooks trat in Konzerten am Kap der Guten Hoffnung auf – und merkte schnell, dass sich sein Platz inzwischen eher hier als in Wien befand. „In Südafrika gibt es so viel zu tun“, sagt der 63-jährige Sänger.

Das Jugendorchester afrikanische und europäische Musik zusammenbringen

Zunächst organisierte der Heimkehrer interkulturelle Festivals, die zu einem „musikalischen Erfolg“, aber zu einer „kommerziellen Pleite“ wurden. Er brachte die südafrikanische A-cappella-Gruppe Ladysmith Black Mambazo mit dem Englischen Kammerorchester zusammen; die Gruppe wurde 2005 sogar für den Grammy-Preis nominiert. Brooks wurde von den Kosten der Festspiele aber fast ruiniert. Er änderte seinen Ansatz und gründete das Jugendorchester Miagi, was für „music is a great investment“ steht – womit auch der ökonomische Einsatz gemeint ist. Der Sänger legte Wert darauf, in dem Orchester nicht nur schwarze und weiße Musiker, sondern auch afrikanische und europäische Musik zusammenzubringen.

Brooks sah schnell, dass es mit der Gründung eines Orchesters nicht getan war: Er musste auch für dessen Nachwuchs sorgen. Als ein Kulturmäzen der legendären Morris-Isaacson-Schule in Soweto, von der 1976 der Aufstand schwarzer Schüler ausgegangen war, eine Mehrzweckhalle stiftete, überzeugte ihn der Sänger, einen weiteren Gebäudekomplex danebenzusetzen: Er sollte zur Heimat der Miagi-Musikschule werden. Der Ansturm interessierter Anwärter aus der schwarzen Millionen-Township stellte sich als dermaßen überwältigend heraus, dass sich die Schule bald zu einem Aufnahmestopp gezwungen sah.

Derzeit bildet die Schule 300 Kinder aus

Ein Nachmittag in White City, mitten in Soweto. In der Mehrzweckhalle der Morris-Isaacson-Schule findet die Trauerfeier für eine ermordete Großmutter statt: traurige Choräle, Gospelmusik, in der es Südafrikas schwarze Musiker zu Weltruhm gebracht haben. Aus dem benachbarten Gebäude schallen unterdessen fröhlichere Töne: In der Musikschule übt Olga Maraba mit einer zehnköpfigen Streichergruppe Antonín Dvoráks „Aus der Neuen Welt“ ein. Derzeit bildet die Schule 300 Kinder aus: an allen klassischen Streichinstrumenten, an der Trompete und am Klavier, aber auch an elektrischen Gitarren und Trommeln. Als eine der ersten Township-Bewohnerinnen hat Olga in den 70er Jahren das Geigenspielen gelernt: Heute tritt sie mit dem Johannesburger Philharmonischen Orchester auf.

„Sie ist wie eine Mutter“, schwärmt ihr Schüler Njabula Nxumalo, der bereits als Zweijähriger seine Eltern verlor. Er lebt mit seiner Tante gleich um die Ecke der Miagi-Schule. Als er eines Tages beim Heimweg die aus dem Gebäude schallenden Töne hörte, habe er gewusst: „Da muss ich hin.“ Heute spielt der 17-Jährige sowohl Geige als auch Kontrabass – weil man mit beiden Instrumenten ganz verschiedene Musik machen kann. Obwohl sich die Jungen aus der Nachbarschaft gelegentlich über seine „Musik der alten weißen Männer“ beklagen, übt Njabula bis zu sechs Stunden am Tag: Die Frage, was er mal werden will, erübrigt sich so.

„Wir haben den Europäern einiges zu erzählen“

Wenn alle jungen Johannesburger Musik machen würden, sähe das Leben hier anders aus, meint die 15-jährige Cellistin Kgothatso Molokwane: „Dann hätten wir nicht diese Probleme mit Drogen, Kriminalität und Kinderschwangerschaften.“ Die Cellistin wird in der Miagi-Schule über Skype von einem Musikstudenten des Konservatoriums der Universität Birmingham gecoacht: Wie die Musik selbst kennt der Unterricht keine Grenzen.

Wenn es dem Miagi-Orchester mit seiner Europa-Tour gelänge, auf Südafrikas Musikszene aufmerksam zu machen, dann habe er sein Ziel erreicht, sagt Robert Brooks: Auf dem Programm stehen neben Beethoven, Strawinsky und Bernstein auch die „Rainbow Beats“, die vom diesjährigen Dirigenten der Regenbogentruppe, dem Engländer Duncan Ward, eigens für diesen Anlass komponiert worden sind. Sie sollen die kulturelle Herkunft Nelson Mandelas feiern: eine „kaleidoskopische Reise“ von traditionellen afrikanischen Gesängen über schwingenden Township-Jazz bis zur zeitgenössischen Klassik. „Wir haben den Europäern einiges zu erzählen“, sagt Mavimbela: „Sie werden sich wundern.“