Bei einer Bergtour in den Lechtaler Alpen werden vier Patienten der Göppinger Kinder- und Jugendpsychiatrie an ihre Grenzen gebracht. Diese Form der Erlebnispädagogik bewirkt erfahrungsgemäß viel Gutes.

Göppingen/Zürs - Geschafft! Endlich! Auf 2415 Metern und nach gut fünfeinhalb Stunden stehen alle auf der Rauhekopfscharte, dem höchsten Punkt einer Bergtour, die alle Teilnehmer an ihre Grenzen bringt. Das Ziel, die Stuttgarter Hütte, ist etwas unterhalb in Sicht, wenn auch noch eine Dreiviertelstunde Wegs entfernt. Das schaffen sie auch noch.

 

An diesem sonnig-heißen Julitag haben sich keine geübten Bergwanderer auf die schweißtreibende Tour in den Lechtaler Alpen gemacht, sondern vier Jugendliche und vier Betreuer der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Göppinger Christophsbads. Jens, Miriam, Johanna und Michael (die Namen der Patienten sind geändert) haben allen Grund, stolz auf ihre Leistung zu sein. Elf Kilometer bergauf und selten bergab, über Schneefelder und Geröllhalden: Die beiden 13-Jährigen, der 17- und die 18-Jährige haben am Ende eines langen Tages 1200 Höhenmeter unter die Sohlen genommen. Keiner hat schlapp gemacht, alle hatten sie zwischendurch ihre Tiefs, und alle haben sich schließlich durchgekämpft.

Und doch fällt die kleine therapeutische Zwischenrunde auf dem Gipfel seltsam zurückhaltend aus. Als der Sozialpädagoge Stefan Helbing, 43, seine Schützlinge fragt, wie sie nun ihre Leistung auf einer Skala von eins bis zehn einschätzen, geben sich die Jugendlichen höchstens eine Acht, auch eine Fünf fällt, während sie ihren Leidensgenossen durchweg höhere Werte zugestehen. „Das ist ein Grund, weshalb wir das machen. Unseren Patienten mangelt es an Selbstwertgefühl“, wird Helbing später erklären. Er gibt jedem zwölf Punkte.

Man mag es als abwegig abtun, Patienten auf Kosten der Krankenkassen für ausgedehnte Bergtouren nach Österreich in die Alpen zu karren. Und doch tut sich an diesen zwei außergewöhnlichen Tagen einiges, das ist nicht zu übersehen. Studien belegen, dass Bergwandern gegen Depressionen hilft. Doch davon wissen die Patienten nichts.

Stille im Bus

Auf der Busfahrt nach Zürs herrscht noch bedrückte Stille. Nicht „Vorfreude“, sondern „Respekt“ ist das Wort, das Jens und Miriam einfällt, wenn sie auf die bevorstehende Tour angesprochen werden. Beide sind nicht unsportlich, aber Bergtouren machten sie noch nie. „Ich weiß nicht, wie ich das überhaupt schaffe“, meint Miriam, die Älteste im Bunde.

Wie viele der psychisch kranken Kinder und Jugendlichen, die in Göppingen stationär behandelt werden, hat auch sie bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Mit dem Leistungsdruck in der Schule kam sie irgendwann nicht mehr klar. Sie berichtet von Panikattacken auf dem Schulweg. Was sie sich zutrauen kann, ahnt sie allenfalls. Es fällt ihr schwer, anderen zu vertrauen. Ein klassischer Fall für die Erlebnispädagogik, die im Christophsbad einen großen Stellenwert besitzt.

„Wir machen Dinge, die die Patienten nie von sich aus machen würden. Klettern, mehrtägige Radtouren, Kanufahren, Aktionen im Hochseilgarten und mehr. Es geht für sie auch darum, mal etwas zu Ende zu bringen, von dem andere sagen: das ist gut für dich“, sagt Helbing. Gerade für Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichsten Gründen wochenlang keine Schule mehr besucht, ihre Ausbildungen abgebrochen haben und sich insgesamt nichts mehr zutrauen, seien solche Erfahrungen wichtig. Dazu gehöre auch die Erfahrung, wie und dass man in einer Gruppe funktioniere und dass man anderen vertrauen könne.

Ein Erlebnis, das haften bleibt

Aller Anfang ist aber beschwerlich. Viel Ausrüstung muss auf die Stuttgarter Hütte hochgeschleppt werden: Vesper, Trinken, Wechselkleidung, Schlafsack, Waschzeug. Und kurz vor dem Abmarsch in Zürs auf 1717 Metern verteilt Helbing noch Notallausrüstung wie ein Notbiwak – was auf Zweifler nicht gerade vertrauensbildend wirkt.

Hier bleibt nichts dem Zufall überlassen. Die Route zur Stuttgarter Hütte hat Helbing gemeinsam mit dem Deutschen Alpenverein ausgesucht. Ein wichtiges Kriterium ist, sicherheitshalber unterwegs immer Handyempfang zu haben. Die Tour sollte zudem anspruchsvoll und abwechslungsreich sein. Nach der ersten Probewanderung vor einigen Jahren mit ungeübten Mitarbeitern, sei er für verrückt erklärt worden, die Route mit Patienten gehen zu wollen. Genau das habe ihn bestärkt, sagt Helbing. „Es soll ja eine Herausforderung sein und ein Erlebnis, das haften bleibt.“ Mittlerweile ist er drei Mal pro Jahr in unterschiedlich großen Gruppen und wechselnder Zusammensetzung zur Hütte unterwegs.

Der erste Anstieg ist gleich ordentlich steil. Nach 500 Metern ist die Gruppe schon weit auseinandergezogen. „Jeder muss seinen Rhythmus finden. Keiner wird gehetzt, und es findet auch jeder seine eigene Strategie“, sagt Helbing, der als erfahrener Alpinist für reichlich Pausen sorgt. Längst sind die ersten aufgeregten Plappereien verstummt. Jeder schleppt sich so gut es geht den Berg hinauf, nur unterbrochen von aufmunternden Worten der Betreuer. Nach zwei Stunden, vorbei an stillgelegten Sesselliften und in allen Farben schillernden Bergwiesen, ist die Monzabonalpe auf 1979 Metern erreicht, laut Helbing letzter Punkt der Zivilisation, mit Ausschank und Toilette.

An der Rüfispitze durchs Ochsengümple

Nach kurzer Rast geht es steil ansteigend über eine Alm. Spätestens jetzt kommen auch jene Betreuer ins Schwitzen, die die Tour schon mehrfach begleitet haben. „Für die Patienten ist das eine echte Motivation. Sie sehen, dass es für jeden anstrengend ist“, sagt Helbing. Jens, Miriam, Johanna und Michael sind eine gute Truppe und halten mit. „Wir hatten auch schon Kinder dabei, die haben sich einfach hingesetzt und wollten keinen Schritt mehr weiterlaufen. Einer hat das mal eine ganze Viertelstunde lang durchgehalten. Dann ist er uns aber doch noch gefolgt und war am Ende sehr glücklich darüber“, sagt Stefan Helbing.

Nach einer Rast am malerischen Monzabonsee folgt der erste Kamm – und für die meisten der jungen Kletterer das erste Schnee-Erlebnis im Sommer. Die Stimmung steigt wieder. An der Nordseite der Rüfispitze durchs Ochsengümple geht es zunächst auf recht ebenem Geläuf weiter, bevor der letzte steile Anstieg zur Rauhekopfscharte folgt. Und immer wieder müssen Schneefelder gequert werden.

Stefan Helbing erzählt von Touren, bei denen sich die kleine Expedition im Frühherbst schon durch knietiefen Neuschnee oder dichten Nebel hat kämpfen müssen. Oder voriges Jahr, da zwang ein Gewitter die Gruppe kurz vor dem Gipfel zur Umkehr. „Wir mussten in einer Mulde Schutz suchen, bis sich das Wetter halbwegs beruhigt hatte.“ Diesmal läuft alles wie am Schnürchen. Jens hat sogar ein Auge für die Landschaft und ist begeistert von den Murmeltieren, die sich in Scharen zeigen. Keiner rebelliert, nach sieben Stunden ist die Stuttgarter Hütte des Alpenvereins erreicht.

Miriam ist froh, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Nach einer Dusche, Bratkartoffeln mit Ei und einem Kaiserschmarrn kommt sie am Abend auf der Hütte mit ihrem Betreuer ins Gespräch und verrät: „Mittendrin habe ich mir echt überlegt, ob ich jetzt umkehre oder weitergehe. Es wäre aber beides gleich weit gewesen. Da habe ich mich fürs Weitergehen entschieden“, sagt sie. Und warum? „Weil es sich besser anfühlt weiterzugehen, als aufzugeben“, sagt sie bestimmt und plaudert noch weiter über sich und ihre Anstrengungen beim Wandern, aber auch im Leben allgemein.

Tiefer Schlaf im Nachtgewitter

„Solche Gespräche sind wirklich wertvoll“, sagt Helbing. Natürlich ergäben diese sich im Stationsalltag auch, doch sei es dort nicht so einfach, die Jugendlichen am richtigen Punkt, in der richtigen Stimmung zu haben. Auch die anderen sind beim Hüttenabend nun doch sichtlich stolz auf sich – und erschöpft. Schließlich fallen sie in ihrem spartanischen Matrazenlager in tiefen Schlaf. Das Gewitter, das in der Nacht aufzieht, bemerken sie kaum.

Am Morgen nach dem Gipfelsturm hat sich das Blatt gegenüber dem Vortag sichtlich gewendet. Diesmal herrscht zwar Nieselregen und Nebel statt Sonnenschein, dafür aber durchweg Zuversicht vor dem Abmarsch. Daran ändert auch das Frühstück, das nur aus einem Heißgetränk besteht, nichts. Der steile Abstieg auf relativ direktem Wege gerät fast zum Spaziergang. Zweieinhalb Stunden später, wieder glücklich im Bus angelangt, blickt Miriam zurück: „Das war Wahnsinn. Dass ich das schaffe, hätte ich nie gedacht.“

Welchen prägenden Eindruck diese Bergtour dauerhaft hinterlässt, weiß Stefan Helbing. Ein Jahr nach ihrer Entlassung werden die Patienten noch einmal zu ihrem Klinikaufenthalt befragt und an was sie im Rückblick so denken. „Fast immer nennen sie die erlebnispädagogischen Aktionen“, sagt er. „Die Jugendlichen haben dabei erfahren, was sie leisten können. Und sie haben erfahren, dass sie gar nicht so anders sind als andere.“ Die Bergtour, das sei ein absolutes Highlight, sagt Helbing. „Unsere Aufgabe ist dann, dieses Erlebnis in den Alltag zu übertragen.“