Die Jugend von heute hat mit der Natur nichts mehr im Sinn. Dieser Vorwurf aus der Erwachsenenwelt ist weder neu noch besonders originell. Er trifft allerdings in einem hohen Maße zu, wie der neue Jugendreport Natur 2016 zeigt.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - „Geh nach draußen spielen.“ Was in den 1970er und 1980er Jahren für Kinder noch eine ganz normale Ansage der Mutter war, würde heute viele Kids ratlos zurücklassen. Draußen spielen? Was soll ich da? Mit wem soll ich spielen? Da ist doch niemand. Lieber gehe ich zu meinem Freund und wir gucken eine DVD an oder holen die Spielkonsole raus. Natur, Wald und Wiesen sind vielen Heranwachsenden fremd und Eltern suspekt. Was da nicht alles passieren kann? Da lauert der „böse Mann“, man macht sich schmutzig, kann sich verletzen und ist aus dem Blickfeld. Besser die Kids spielen im Kinderzimmer, wo sie unter Kontrolle sind.

 

Die Natur – das unbekannte Land

Natur ist heute für viele Kinder und Jugendliche das, was Australien im 18. Jahrhundert für den berühmten britischen Seefahrer und Entdecker James Cook war: „Terra incognita“ – ein unbekanntes Land. „Die Entfremdung von der Natur nimmt immer stärker zu. Das Interesse an ihr ist deutlich zurückgegangen, ja verloren gegangen“, sagt Rainer Brämer. Seit mehr als drei Jahrzehnten untersucht der Soziologe, Jugend- und Naturforscher aus der hessischen Gemeinde Lohra bei Marburg das Verhältnis des modernen Menschen zur Natur.

Zum siebten Mal hat der 72-Jährige jetzt den Jugendreport Natur veröffentlicht. Dafür befragten Brämer und seine beiden Mitstreiter, der Biologie-Didaktiker Hubert Knoll von der Universität Köln und der Waldpädagoge Hans-Joachim Schild 1253 Schüler der Klassenstufen sechs und neun in Nordrhein-Westfalen. Für ihren letzte Jugendreport Natur 2010 hatten die Forscher noch Schüler aus sechs Bundesländern befragt. „Die Ergebnisse aus alle sieben Studien zeigen, dass die zunehmende Naturentfremdung ein bundesweites Phänomen ist und nicht auf nur einzelne Bundesländer zutrifft“, erklärt Brämer.

Natur wird zur Nebensache

Die Fragen zielten wie schon in den vergangenen Umfragen auf das Alltagswissen der Kinder in puncto Natur die Art und Häufigkeit ihres Kontakts etwa bei Waldspaziergängen oder in den Ferien sowie ihr Naturverständnis. „Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erschreckend“, schreiben die Autoren in ihrem Report „Natur Nebensache?“ Simple Wissensfragen können immer weniger Jugendliche richtig beantworten. Stattdessen neigen sie zu einem verklärten Naturbild. Fast drei Viertel der Heranwachsenden bejahte die pauschale Aussage: Was natürlich, ist gut?“ 77 Prozent meinten, dass Tiere die gleichen Lebensrechte wie Menschen besitzen. Und 51 Prozent glauben, dass „Bäume eine Seele haben“.

Gravierende Defizite beim Naturwissen

Auch die Frage, in welchem Monat die Sonne am spätesten untergehe, konnten nur 16 Prozent die richtige Antwort geben. Weiteres Wissen, das abgefragt wurde, ist zum Beispiel: „Wie viele Eier kann ein Huhn pro Tag legen?“ Zwei Fünftel konnten dazu überhaupt nichts sagen, genauso viele fischten im Trüben. Die Antworten reichten von zwei Eiern am Tag bis zum Superhuhn, das mehr als zehn Eier legt. Bei der letzten Befragung 2010 gaben noch 30 Prozent die richtige Antwort.

Eine andere Aufgabe lautet: „Nenne drei essbare Früchte, die bei uns im Wald oder am Waldrand wachsen.“ Gerade mal zwölf Prozent wussten Bescheid. 24 Prozent der Kinder fiel gar keine Frucht ein. „Einerseits scheinen viele Kinder und Jugendliche nicht zu wissen, welche essbaren Früchte im Wald wachsen. Zum anderen gehen nicht wenige davon aus, dass Früchte, die es im Supermarkt gibt wie Bananen, Ananas und Kokosnüsse, einfach im Wald gesammelt werden können. Dass diese von Obstbauern auf Plantagen oder Feldern angebaut werden, scheint ihnen nicht bewusst“, resümieren die Autoren.

Dass drei von fünf Befragten angaben, sich mindestens einmal im Monat im Wald aufzuhalten, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Die Aufenthalte, bei denen häufig ein Erwachsener dabei ist, sind mehr Ausflüge als aktive Freizeitgestaltung. Natur wird nicht mehr spielerisch entdeckt und erobert, sondern im Schulunterricht und eigenen Zimmer „angelernt“. 57 Prozent der Befragten gaben an mindestens drei Stunden am Tag Handy, Tablet, PC, Konsole oder Fernseher zu nutzen. (Hier gibt es die kompletten Fragebögen aller "Jugendreports Natur" von 1997 bis 2016)

Digitale Pseudo-Realität statt echter Natur

Jugendliche, die häufig in der Natur unterwegs sind oder auf dem Land leben, haben eine engere Beziehung zur Natur. „Ihr Naturwissen ist erheblich konkreter, authentischer“, erklären die Autoren. Es ist nicht dieses Ergebnis der Studie, was nachdenklich macht, sondern das rasante Tempo, mit dem die Entfremdung von der Natur fortschreitet. „In den letzten Jahren hat es sich mit den neuen Medien ganz besonders beschleunigt“, betont Brämer.

Die Eltern spielen bei diesem Entwicklung eine wichtige Rolle. So gibt jedes zweite Landkind an, sich ohne Einschränkungen unbeaufsichtigt in der Natur aufhalten zu dürfen, während die Stadtkinder in der Mehrzahl ein Handy, Freunde oder einen Erwachsenen dabei haben müssen, um nach draußen zu dürfen.

Die Mär von der Lila-Kuh

Der erste Jugendreport Natur erschien 1997 zum Thema „Naturverklärung“. Er beschäftigte sich unter anderem mit der Mär von der „lila Kuh“. Mitte der neunziger Jahre gab es in Bayern einen Schüler-Malwettbewerb, an dem 40 000 Kinder teilnahmen. Als sie eine Kuh ausmalen sollten, griffen 30 Prozent der Schüler zur Farbe Lila, unverkennbar in Anlehnung an die bekannte Werbung eines Schokoladenherstellers.

Ob die Kinder wirklich glaubten, es gäbe lila Kühe oder sie die Idee nur witzig fanden, wurde nicht gefragt. Rainer Brämer und andere Soziologen von der Universität Marburg nahmen dies 1997 zum Anlass, dem Naturbild von Kindern genauer nachzugehen. Der erste „Jugendreport Natur“ räumte gründlich auf mit der Mär von der „lila Kuh“. Zugleich offenbarte er anhand eines breiten Spektrums von naturbezogenen Fragen zu Wissen und Werten sowie Vorlieben, Interessen und Erfahrungen eine sehr viel weitgreifendere jugendliche „Naturentfremdung“, berichtet Brämer. Nachfolgestudien mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten hätten den ständig fortschreitenden Entfremdungsprozess bestätigt.