Kultur: Stefan Kister (kir)

Es ist mehr als ein Gag, dass Juli Zeh ihren Dorfkosmos über die Ränder des Buches in die reale virtuelle Welt ausdehnt: Manfred Gortz lässt sich googeln, ebenso wie der Gasthof „Märkischer Landmann“, in dem die Unterleutener sich mit Bromfelder für ihre Scharmützel betanken. Auch der örtliche Vogelschutzverein, der sich für den vom Aussterben bedrohten Kampfläuferbestand einsetzt, hat seine Dependance im Netz. Mehr als ein lustiger Einfall ist es deshalb, weil Zeh die Wirklichkeitskonstitution des realistischen Erzählens den Gegebenheiten der digitalen Welt anpasst. Viel wurde über den Einfluss von Serien auf den zeitgenössischen Roman geschrieben, „Unterleuten“ steht für eine andere Art der Infiltration: die Wiedergeburt des Gesellschaftsromans aus dem Geist des Computerspiels.

 

Dem Bestreben, vom Rand aus ein Panorama des modernen Lebens in seinen widerstrebenden Tendenzen zu zeichnen, entspricht eine dezentrale Personenregie. Jedes Kapitel ist mit den Augen einer der handelnden Figuren gesehen. Es sind gleichsam Avatare, aus deren unterschiedlichen Perspektiven der Leser das Geschehen erlebt. Jede Außensicht wird durch die Innensicht korrigiert und ergänzt. Wer wie Gombrowski gerade noch als skrupelloser Strippenzieher die Dorfgemeinschaft an den Fäden seiner Interessen tanzen zu lassen schien, erscheint im nächsten Moment als tragische Figur, hinter deren bulldoggenhafter Grobschlächtigkeit eine zarte Seele wohnt.

Menschen mit Quellcode

„Wenn ich in Unterleuten eines gelernt habe, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat“, sagt eine Journalistin, die am Ende die dörflichen Turbulenzen für eine Reportage recherchiert, aus der, wie ihre Redaktion meint, eigentlich ein Roman werden müsste. Oder eben ein als Roman getarntes Computerspiel. Wie ein geschickter Programmierer reichert Juli Zeh ihre Figuren mit dem für ihren jeweiligen Ausschnitt relevanten Wissen an. Von den Kollektivierungsmaßnahmen in der DDR, über die Grundstücksspekulation nach der Wende bis zu den Sozialisierungsmodellen frustrierter Großstädter reicht der Bogen, unterfüttert von den talkshowerprobten Diskursbeständen, denen Juli Zeh ihren Ruf als wache Zeitgenossin und engagierte Autorin verdankt.

Mit Liebe zum Detail werden die windigen Transaktionen und luftigen Träume dieser durch und durch heutigen Gestalten durchgespielt, kenntnisreich, handwerklich perfekt und enorm unterhaltsam. Und doch fehlt ihnen die letzte Tiefenschärfe, statt Pickel glaubt man Pixel wahrzunehmen, statt einem personalen Eigenleben die Matrix eines raffinierten Quellcodes. Und so bleibt Juli Zehs Update des Dorfromans seiner hochgradig realistischen Oberfläche zum Trotz letztlich der virtuellen Welt verhaftet. Damit freilich unterstreicht die Form nur die Botschaft dieses Buches: dass man das wahre Leben auf dem Land vergeblich sucht.