Ob Digitalisierung oder Klimawandel, ob Hetze oder Machthaber, die Gräben vertiefen, anstatt sie zu glätten: Juliette Villemins Tanzperformance „Phobiagora“ spürt einer Beklemmung nach, die gerade allgegenwärtig ist.

Stuttgart - In der „Ekstase“-Ausstellung im Kunstmuseum hängt derzeit Louise Bourgeois’ „Arch of Hysteria“ von der Decke, eine polierte Bronzeplastik, die einen Körper in maximaler Rückbeuge zeigt. Nun beruft sich die Choreografin Juliette Villemin mit ihrer Tanzperformance „Phobiagora – Orte der Angst“ ausdrücklich auf die in Paris geborene Künstlerin. Für Bourgeois war Kunst ein Mittel, die eigenen Ängste in Poesie zu verwandeln. In der Einführung verweist Villemin vor allem auf die Werkreihe „Cells“, lässt per Projektion im Stück aber auch Spinnen über mobile Trennwände geistern.

 

Es ist die Protagonistin Verena Wilhelm, die mit ihrer Gelenkigkeit eine Brücke von der Angst vor zu viel Nähe zu diesem „Bogen der Hysterie“ schlägt und damit vom Theaterhaus auf dem Pragsattel hinunter ins Kunstmuseum verweist. Mit nackten Füßen nach Halt tastend, sich verrenkend und nach größtmöglicher Distanz zu sich selbst suchend, treibt sie ihr Solo in eine Verrenkung, die allein den Körper von den Nöten mit dem eigenen Ich und der Welt erzählen lässt. Ein überaus starkes Bild und eine bizarre Verbeugung vor Louise Bourgeois.

Was löst Ängste aus?

Villemins Tanzperformance „Phobiagora“, im Rahmen der von der freien Tanzszene initiierten Tanz-Tour zu sehen, spürt einer zunehmenden Beklemmung nach, die gerade allgegenwärtig zu sein scheint. Ob Digitalisierung, Globalisierung oder Klimawandel, ob haltlose Hetze, Aufrüstung, undurchsichtige Geheimdienstaktionen oder Machthaber, die gesellschaftliche Gräben vertiefen, anstatt sie zu glätten: Auslöser für Ängste gibt es viele. Und doch lässt sich Villemin von diesen gesellschaftlichen Phobien nicht Bange machen. Das überrascht, hat sie ihr Publikum doch ausdrücklich aufgefordert, an einer Umfrage teilzunehmen. 70 ausgefüllte Fragebögen habe sie schon ausgewertet und die Ergebnisse für ihr Stück verwendet, sagte sie vor der Premiere am Mittwoch im Einführungsgespräch. Hinweise darauf finden sich in „Phobiagora“ jedoch nicht oder die Antworten sind so subtil eingearbeitet, dass sie in den allgemeinmenschlichen Nöten aufgehen, die hier vorrangig behandelt werden. Aufgespürt werden die Urängste in vier Darstellern, die diese ebenso zart wie radikal leiblich verkörpern.

Treten die Protagonisten gemeinsam auf, geht es um Selbstverortung, um Manipulation, um Verfolgungswahn, Erstarrung und um Brutalität, die aus Nähe wie aus Distanz erwachsen kann. All das deutet sich in langsam erzählten Sequenzen und über weite Teile ohne klangliche Untermalung an, wird selten ausformuliert. Angst ist ein Zustand in der Schwebe, ganz im Gegensatz zum Schrecken. Nachvollziehbare Auslöser sind hier sprunggewaltige Angriffe gegen die Wand, an die sich Personen pressen und zur Zielscheibe werden.

Differenzierter lassen sich die seelischen Abgründe in den vier Soli betrachten, die jedem Darsteller und jeder Darstellerin Gelegenheit geben, eigene Akzente zu setzen. Johannes Walter verliert sich im Rauschen des Windes, Verena Wilhelm entfremdet sich als Vortragende vor sich selbst, Kirill Berezovski verstrickt sich in Selbstbewunderung und Marina Grün kämpft gegen den Kontrollverlust. Was harmlos beginnt, steigert sich zum Wettkampf mit dem eigenen Ich, bei dem der Körper als Ausdruck des Unbewussten die Regie übernimmt und die Muskeln und Gelenke nach seiner Pfeife tanzen lässt.

Nochmals am 26. und 27. Oktober