EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker heizt mit seinen Ideen die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union an. Darauf muss die künftige Bundesregierung eine Antwort finden, kommentiert Christopher Ziedler.

Berlin - Die internationale Politik ist Dauergast im deutschen Wahlkampf. Da tauchen Fluchtursachen in Afrika auf, der Syrienkrieg und die globale Terrorgefahr – die Herren Trump und Erdogan sowieso. Die künftige Europapolitik dagegen, die die nächste Bundesregierung viel direkter beeinflussen kann, spielt eine untergeordnete Rolle. Zu Unrecht, wie die Rede von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zur Lage der Europäischen Union vor Augen geführt hat. Nichts weniger als ein europäischer Neuanfang steht zur Debatte. Soll die EU der – nach dem Brexit verbleibenden – 27 Staaten stärker vereint werden, um ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu verhindern? Angesichts dessen wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass bei den Wahlbürgern im bevölkerungsreichsten EU-Staat für verschiedene Konzepte geworben wird. In den Unterkapiteln der Wahlprogramme sind sie auch durchaus zu finden, im öffentlichen Diskurs jedoch nicht.

 

Dabei steht eine europapolitische Richtungswahl ins Haus. Das mag sich auf den ersten Blick merkwürdig anhören, wo doch mit Angela Merkel und Martin Schulz zwei proeuropäische Kanzlerkandidaten ins Rennen gehen, die sich für die weitere Integration aussprechen. Doch im Detail gibt es große Differenzen zwischen den beiden: Merkel hat sich bisher nur zum Ausbau des Eurorettungsfonds ESM zu einem europäischen Währungsfonds bekannt. Für vieles andere zeigt sie sich lediglich offen. Schulz wiederum lehnt sich mit seinem Programm eng an die Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an – inklusive der Idee eines EU-Finanzministers sowie eines Eurozonenbudgets, das dem deutschen Länderfinanzausgleich ähnelt. Ganz unterschiedlich wird zwischen den bisherigen Koalitionspartnern die Griechenlandpolitik von CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble bewertet.

Junckers Vorschläge sorgen für Wahlmotivation

Europapolitisch noch spannender ist der Kampf um Bronze, wo Grüne, Liberale, Linke und erst recht die AfD Welten trennen. Die Linke propagiert ein sozialeres Europa, die grüne Partei mehr europäische Demokratie und damit mehr Staatlichkeit, die FDP Eigenverantwortung der EU-Länder, Griechenlands Euro-Austritt nicht ausgeschlossen. Die rechte Alternative will hin zum losen Staatenbund oder austreten, wenn die Partner nicht mitmachen. Junckers Vorschläge, die langfristig auch in Polen oder Ungarn vorgesehene Euroeinführung über Hilfen zu beschleunigen und Bulgarien wie Rumänien in den Schengenraum des freien Reisens aufzunehmen, dürften bei manchem AfD-Anhänger für zusätzliche Wahlmotivation sorgen.

Wie sich die künftige Bundesregierung zur EU-Reform positioniert, hängt stark von der künftigen Koalition ab. Schwarz-Gelb wäre aus Sicht der europäischen Partner wohl die schwierigste Konstellation, da die FDP streng ordnungspolitisch auf Europa schaut; Schwarz-Grün würde wohl neue europäische Solidaritätsinstrumente unterstützen. In einer Jamaika-Koalition könnten sich Grüne und Liberale europapolitisch neutralisieren. Rot-Rot-Grün wäre auch in Bezug auf die EU eine unbekannte Größe, eine fortgesetzte große Koalition vielleicht die europäischste von allen.

Zwischen Berlin und Paris gesetzt

Konflikte sind in jedem Fall programmiert. So hat sich Juncker, was die Währungsunion betrifft, genau zwischen Berlin und Paris gesetzt. Er will kein Eurobudget wie Macron, dafür aber seinen Währungskommissar als EU-Finanzminister. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie es in Schäuble brodelt. Eine Behörde, die EU-weit auf ähnliche Arbeitsmarktstandards dringt? Man sieht sie in der Union schon die Fäuste in den Hosentaschen ballen. Manchem Sozialdemokraten dagegen gehen die sozialpolitischen Vorstellungen Juncker nicht weit genug. Die Bundesbürger können am 24. September mit entscheiden, wohin die Reise in Europa geht.