In den meisten Parlamenten fehlt die mittlere Generation, weil sich Beruf, Familie und Ehrenamt nur schwer miteinander vereinbaren lassen. Zwei Sindelfingerinnen zeigen, wie es geht: Sie nehmen die Kinder mit in den Ratssaal.

Sindelfingen - Bei 56 Jahren liegt der Altersdurchschnitt im Sindelfinger Gemeinderat – ähnlich wie in den meisten anderen Kommunalparlamenten. Seit knapp drei Monaten jedoch ist er um einige Monate gesunken. Grund dafür: der kleine Philipp, der am 11. September zur Welt kam. Schon bei der konstituierenden Sitzung des Gremiums im Mai war er dabei – damals allerdings noch im Bauch seiner Mutter. Am 11. September kam er zur Welt – sechs Wochen zu früh. Seither darf er mit, wenn Lena Richter zu den Gemeinderatssitzungen, Ausschusstagungen und Fraktionssitzungen geht.

 

Für die 32-jährige Rätin der Grünen ist es selbstverständlich, ihren Sohn dabei zu haben. „Eine Betreuung macht im Moment keinen Sinn, da ich Philipp stille. Und er hat ständig Hunger“, sagt sie. Drei, vier oder mehr Stunden – solange dauern viele Sitzungen – kann sie ihn daher nicht in fremde Hände geben. Und so steht das Babykörbchen des Kleinen in der letzten Reihe des Ratssaals. Oft schlummert Philipp selig darin, während sich die Räte lautstarke Debatten liefern. Manchmal verfolgt er die Sitzungen auch vom Arm seiner Mutter aus. Gelegentlich meldet er sich zu Wort – mit sehr dezentem Gebrabbel. „Wenn er schreit, gehe ich natürlich raus“, sagt seine Mutter. Doch das sei erst ein Mal der Fall gewesen, als sich Philipp in einer Fraktionssitzung der Grünen nicht beruhigen ließ.

Thüringer Landtagspräsident wirft Mutter mit Kind aus dem Ratssaal

Bisher habe es nur positive Reaktionen auf das Baby im Ratssaal gegeben, sagt Richter. „Ich finde das gut“, meint die Baubürgermeisterin Corinna Clemens, selbst Mutter zweier mittlerweile erwachsener Kinder. Der FDP-Fraktionschef Andreas Knapp ist begeistert vom Nachwuchs und sagt: „Ich bewundere, wie Frau Richter das managt.“ Diese erzählt eine Anekdote aus dem Darmsheimer Ortschaftsrat: „Der Ortsvorsteher meinte nach der ersten Sitzung mit Philipp, dass dieser einen positiven Einfluss hat. So diszipliniert sei noch nie diskutiert worden.“

So entspannt wie in Sindelfingen sieht man die Teilnahme junger Mütter mit Kind an Sitzungen nicht überall. Im vergangenen Jahr hatte der Thüringer Landtagspräsident die Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling aus dem Saal geworfen, weil sie ihr Neugeborenes mithatte. Im Bundestag dürfen Abgeordnete ihr Kind nur zu namentlichen Abstimmungen und nach vorheriger Anmeldung mitbringen. Viel weiter ist man schon im Europaparlament, wo öfters kleine Kinder im Plenum zu sehen sind.

Diese Erfahrung habe auch den europabewegten Sindelfinger Oberbürgermeister Bernd Vöhringer geprägt, meint Ulrike Rapp. Sie war bis zum Sommer Stadträtin der SPD, seit September ist sie Mitglied der SPD-Kreistagsfraktion. Während der Zeit im Sindelfnger Rat kam ihre Tochter Lotte zur Welt. Mit in den Sitzungen hatte Rapp das Kind nicht. Ihr Mann, der als Selbstständiger arbeitet, brachte das Baby zum Stillen ins Rathaus, wenn die Mutter beschäftig war.

Leonie, vier Monate alt, darf mit in den Kreistag

Das zweite Kind, Leonie, vor vier Monaten geboren, nimmt Rapp mit in den Kreistag. „Ich bekomme viel Unterstützung von den Kollegen und vom Landrat Roland Bernhard“, sagt Rapp. „Er hat mir gleich ein Stillzimmer organisiert.“ Trotzdem sieht die leidenschaftliche Kommunalpolitikerin noch viel Potenzial bei der Unterstützung junger Eltern, die sich kommunalpolitisch engagieren. „Die mittlere Generation ist in den Kommunalparlamenten praktisch nicht vertreten“, sagt die 36-Jährige. Für sie liegt der Grund in der schlechten Vereinbarkeit von Kindern, Beruf und Ehrenamt. „Das fängt mit den Sitzungsterminen an, die ungünstig sind für Eltern. Und geht mit der Wahl des Ortes für Klausursitzungen weiter.“

Und tatsächlich: Im Sindelfinger Rat ist Richter die einzige Frau in den 30-ern, die einzige mit einem Kleinkind. Weder in Herrenberg noch in Böblingen, Stuttgart und auch nicht in Esslingen seien Babys im Ratssaal bisher ein Thema gewesen, bestätigen die Stadtsprecher. Frauen wie Lena Richter und Ulrike Rapp wollen das ändern. „Gerade für Kernthemen der Kommunalpolitik wie die Kinderbetreuung braucht man junge Eltern“, sagt Rapp. Deshalb wird die kleine Leonie auch weiterhin den Kreistag verjüngen.