Hätte ein syrischer Musiker die beiden nicht in letzter Sekunde von der Gleiskante gezerrt, wären ein junger Mann und seine Mutter womöglich beim Ludwigsburger Bahnhof von einer S-Bahn überrollt worden. Der 20-Jährige, der seine Mutter mit sich gezogen hatte, war jetzt wegen versuchten Totschlags angeklagt.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Gehen Sie mit dem Gedanken aus der Verhandlung, dass das keine Gnadenentscheidung ist, sondern die letzte Chance, Ihr Leben in den Griff zu kriegen.“ Diese Mahnung gab Roland Kleinschroth, Vorsitzender Richter am Landgericht Heilbronn, einem 20-Jährigen, der am 21. September 2019 um ein Haar seine Mutter umgebracht hätte, mit auf den Weg. Der Angeklagte wollte sich nach einem Wutausbruch am Ludwigsburger Bahnhof vor eine S-Bahn werfen und seine Mutter mit sich ziehen – sie hatte die Hände in sein T-Shirt gekrallt, um ihn abzuhalten.

 

„Eine wahre Heldentat“

In letzter Sekunde, als beide schon an der Bahnsteigkante wankten, zerrte ein beherzt eingreifender Mann – ein aus Syrien geflüchteter Musiker – sie von der Kante und beruhigte den Sohn. „Ein syrischer Asylbewerber hat verhindert, dass Sie an diesem Tag ihre Mutter umbringen“, sagte Kleinschroth. „Eine wahre Heldentat.“

Der junge Mann, der überdies wegen des Besitzes und der Verbreitung von kinder- und jugendpornografischem Material angeklagt war, muss jedoch nicht ins Gefängnis: Er wurde dazu verurteilt, umgehend in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eine stationäre Therapie zu beginnen, sie „so lange fortzuführen, wie es nötig ist“, und im Anschluss in einer teilstationären oder ambulanten Therapie weiter an seinen Problemen zu arbeiten. All dies unter vielen Bewährungsauflagen: „Ich weiß nicht, wann wir zum letzten Mal einen so ausführlichen Bewährungsbeschluss verkündet haben“, sagte der Richter. Auf weitere Sanktionen habe die Kammer verzichtet – sie seien kontraproduktiv zum Therapieziel. „Wenn es nicht klappt, wird die Therapie abgebrochen. Dann sind Sie dort, wo Sie nicht hinwollen: Im Maßregelvollzug im Klinikum Weinsberg.“

Ambivalente Beziehung zur Mutter

Psychisch angeschlagen ist der Angeklagte schon lange. Ohnehin ist es um seine Gesundheit schlecht bestellt. Zu mehreren schwerwiegenden Erkrankungen kam, so Kleinschroth, im Alter von zehn Jahren der „Supergau“ einer Autoimmunerkrankung. Das Scheidungskind wurde auffällig, brach die Realschule, berufsvorbereitende Maßnahmen und Therapie-Nachbehandlungen ab. Ein Gutachter beschrieb den 20-Jährigen als emotional instabil, narzisstisch, unselbstständig und reifeverzögert. Seinen Zorn und seine Unzufriedenheit bekam immer wieder seine Mutter ab, bei der er lebte – obwohl diese alles für ihn versucht habe, so der Richter.

Auch am Tag der Tat, als er mit der Mutter und drei Bekannten auf dem Rückweg von einer Demo für die Ludwigsburger Rockfabrik war, geriet er aus nichtigem Anlass in Rage – zusätzlich enthemmt durch Bier und Pfefferminzlikör. Er pöbelte auf dem Bahnsteig Unbeteiligte an und richtete seine Aggression schließlich gegen die Mutter, die er mit Schimpfwörtern überzog. Deeskalationsversuche von Umstehenden scheiterten.

Hohes Aggressionspotenzial

„Ohne Behandlung werden Sie weiter rechtswidrige Taten begehen“, mahnte der Richter. In dem Angeklagten lauere eine hohe Aggressivität und Brutalität: „Sie sind gefährlich für die Allgemeinheit. Nur mit einer Behandlung werden Sie vernünftig und ohne Straftaten leben können.“ Der junge Mann will nach eigenen Angaben alles dafür tun. Noch am Tag des Urteilsspruchs musste er sich in die Fachklinik begeben. Zu den Weisungen des Gerichts gehört auch, dass er nach der Therapie nicht mehr mit seiner Mutter in einem Haushalt leben, sondern versuchen soll, auf eigenen Beinen zu stehen.