Das Junge Ensemble Stuttgart macht aus Johanna Spyris Kinderbuch „Heidi“ eine muntere Parabel über Sehnsucht und Lebensfreude und zündet ein Feuerwerk witziger Regieeinfälle.

Stuttgart - Klara ist bockig. Voller Wut sitzt sie mit Netzstrumpfhose und Schottenminirock in ihrem Rollstuhl und hat überhaupt keinen Bock drauf, dass sie jetzt mit einem Naturkind bespielt werden soll. Der Vater, der nie Zeit für sie hat, hat ihr jetzt auch noch eine Spielgefährtin besorgt. „Eine eingekaufte Freundin. Lieb, nett, also das Gegenteil von mir“, giftet das Punkgirl mit den gelähmten Beinen.

 

Und dann ist Heidi da. Viel zu alt für ihr Alter, viel zu dick. Eben kein zartes, kleines Mädchen, sondern eine Frau in den besten Jahren. Irritationen auf allen Seiten. Nicht nur Klara und ihrer Hauslehrerin Fräulein Rottenmeier klappt die Kinnlade runter. Auch die Zuschauer sind irritiert. Schließlich ist nicht nur Heidi so ganz anders als gedacht, auch das Fräulein Rottenmeier ist ganz offensichtlich ein Mann (herrlich gouvernantenhaft und pikiert: Gerd Ritter). Aber darum geht es ja in dieser inspirierenden und vor Einfällen überbordende Inszenierung des Jungen Ensembles Stuttgart (Jes): Sie bricht mit den Erwartungen.

Die Darsteller laufen zu Höchtsform auf

Einsamkeit, Fremdheit, die Sehnsucht nach heiler Welt, Schuld und Sühne – der Kinderbuchklassiker der Schweizerin Johanna Spyri, 1890 veröffentlicht, erzählt von großen Themen. Die Geschichte von Heidi ist mehr als der süßliche Alpenkitsch, den so so manche Trickfilmadaption verklebt hat. Dass das Stuttgarter Projekt anders sein möchte als manche andere Umsetzungen des Stoffes, zeigt schon der Titel: „H.E.I.D.I“ – Heimat entsteht in deinem Innern, so der Untertitel des „Ensemble-Projekts nach Motiven von Johanna Spyri“.

Ensemble-Projekt, was soll das sein? Die Inszenierung von Klaus Hemmerle gibt die Antwort. Denn hier sticht kein Darsteller hervor, hier laufen drei Männer und drei Frauen, eben das Ensemble des Jes, zur Höchstform auf. Der Star ist die Mannschaft – ob sie nun als Geißlein blöken, angetan mit Hörnern am Hut und Fellrucksack vor der Brust, und sich in großartigen Slapstickszenen mal in den Kulissen verklemmen oder mal mit einem kühnen Wurf mit der Plastikflasche Milch abgeben.

Flitzende Stühle, wankender Boden

Es geht turbulent zu auf der Bühne. Das Jes besitzt zwar keine Drehbühne ist, aber die sparsame Requisiten haben alle Rollen und so ist das Geschehen ständig in Bewegung. Stühle flitzen, ein Tisch wird zum wankenden Boden, der die Not der in der Großstadt verkümmernden Kinderseele versinnbildlicht. Andreas Wilkens hat ein minimalistisches Bühnenbild erdacht, das in Windeseile aus der Ankunftshalle des Flughafens eine Berglandschaft macht. Er braucht nur ein paar Tücher dafür und ein paar Buchstaben. Und natürlich diese großartigen Schauspieler, die blitzschnell von einer Rolle in die nächste schlüpfen, wie etwa Alexander Redwitz. Erst ist er gestresster Vater, dann ein sturer Bock und dann der verbitterte Alpöhi, der zwischen Hipster und gealtertem Rockstar einer Gitarre sein Leid klagt. So geht das ständig hin und her.

Es wird viel Live-Musik gemacht bei dieser Inszenierung, Schweizer Volkslieder und Neil Young werden gesungen, ein Kontrabass, eine Gitarre, eine Flöte sind im Einsatz. Es geht schließlich um die ganz großen Gefühle in diesem temperamentvollen und extrem temporeichen Spiel. Die Musik (verantwortlich: Frank Kuruc) setzt da punktgenau die richtigen Akzente und verschafft den Emotionen Gehör.

Diese Heidi ist eine kluge Komposition aus Einzelszenen, aus Vor- und Rückblenden, die den Kern der Geschichte in eine gegenwärtige Welt transponiert. Das hört sich kompliziert an, ist aber gut zu verstehen, wenn man sich erst einmal auf das Tempo eingelassen hat. Urkomische Szenen stoßen auf poetische Momente. Etwa wenn Heidi, dieses eigenwillige Naturkind, in ihrer Sprache das Leuchten des Abendrots in den Bergen beschreibt: „So sagt die Sonne den Bergen gute Nacht und wirft ihnen noch einmal ihre schönsten Strahlen zu.“ Empfohlen wird das Stück für Kinder ab acht. Vermutlich könnten die mit ihren Eltern auch mehrmals hingehen und würden immer noch was Neues entdecken. Das ist dann auch der einzige Wermutstropfen: Dass es bis Ende Juni nur noch eine Nachmittagsvorstellung gibt.