Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in London lief nicht alles nach Drehbuch: Das 100-Meter-Finale gewann nicht Usain Bolt, sondern der ehemalige Dopingsünder Justin Gatlin.

London - Linksaußen auf dem Podium sitzt Christian Coleman, ein 21 Jahre alter Student der Universität Tennessee. Es geht stramm auf Mitternacht zu, der Pressekonferenzraum im Londoner Olympiastadion ist prall gefüllt, die Luft stickig. Coleman stehen Schweißperlen auf der Stirn. Mal tippt er auf seinem Smartphone herum, mal kratzt er sich am Kopf, er fühlt sich sichtbar unwohl, obwohl keiner etwas wissen will von dem WM-Silbermedaillengewinner über 100 Meter. In seinem Blick steht: Wo bin ich da nur reingeraten?

 

Eisig ist die Atmosphäre, schneidend der Ton, was nicht an Coleman liegt, sondern an den beiden Männern, die neben ihm sitzen: Auf der anderen Seite des Tisches der große Usain Bolt, der sich in seinem letzten 100-Meter-Rennen mit Bronze begnügen musste. Und in der Mitte der Mann, der Bolts Abschiedsparty so jäh gesprengt hat und sich seit Samstagabend, 21.45 Uhr Ortszeit, als schnellster Mensch der Welt bezeichnen darf: Justin Gatlin, der Weltmeister, den keiner haben wollte.

Gatlin geht in die Knie

Ein paar Augenblicke der Ungewissheit hat es nach dem Rennen gegeben, der Zieleinlauf war knapp gewesen. Dann leuchtet Gatlins Namen ganz oben auf den Anzeigetafeln auf. Schlagartig verpufft die große Partystimmung. Während sich der geschlagene Bolt trotzdem auf eine Ehrenrunde begibt, verlässt der überwältigte Sieger, eingehüllt in eine USA-Flagge, sehr zügig die Arena. Es hilft ihm nichts, dass er vorher als Ehrerweisung vor Bolt in die Knie sinkt. Noch einmal wird Gatlin vom Publikum gnadenlos ausgebuht – so wie bei vielen anderen Meisterschaften in den vergangenen Jahren, so wie bei den beiden Vorläufen und vor dem Finale in London.

Es ist eine besonders perfide und wirkungsvolle Rache, die Justin Gatlin in London gelungen ist. Sein Sieg, sagen die Sportfans, sei eine Katastrophe für die um neue Glaubwürdigkeit kämpfende Leichtathletik. Zyniker sagen, der Amerikaner sei genau der Weltmeister, den der dopingverseuchte 100-Meter-Sprint verdient hat.

Justin Gatlin, der inzwischen 35 Jahre alte Olympiasieger von 2004, ist ein gleich zweimal überführter Betrüger. 2001 waren Amphetamine in seinem Blut gefunden worden, 2006 flog er wegen erhöhter Testosteronwerte auf. Juristische Winkelzüge und die Rolle als Kronzeuge der US-Antidopingagentur verhinderten die lebenslange Sperre, die über Wiederholungstäter normalerweise verhängt wird. Seine Strafe wurde auf acht und schließlich sogar auf nur noch vier Jahre reduziert.

Der meistgehasste Leichtathlet

Seit seinem Comeback 2010, nach dem er schneller lief als zuvor als offiziell enttarnter Doper, ist Gatlin der wohl meistgehasste Leichtathlet der Welt. Nicht nur bei den Zuschauern, sondern auch bei vielen Athleten, die sich öffentlich distanzieren. Zumindest jenen, die keine 100-Meter-Sprinter sind. In seiner Disziplin ist der älteste Weltmeister aller Zeiten schließlich in bester Gesellschaft: Von den zehn schnellsten 100-Meter-Läufern sind neun früher oder später aufgeflogen. Nur Bolt, dem bis Samstag Unschlagbaren, war nicht in Dopingaffären verwickelt.

Aufrichtig gratuliert der Superstar nach dem Lauf seinem Nachfolger und findet auch vor der versammelten Weltpresse warme Worte: Gatlin habe den Sieg „verdient“, er habe seine Strafe verbüßt und sei „ein Konkurrent wie jeder andere“. Ungemütlich wird Bolt allerdings, als auch er sich plötzlich inmitten der Dopingdebatten wiederfindet. „Wie bitte?“, ruft er, als jemand wissen will, ob die langsamer gewordenen Zeiten mit den strengeren Kontrollen zu tun hätten: „Das ist wirklich respektlos.“ Ja, das Rennen sei langsam gewesen, „aber wir haben eine gute Show geliefert“.

Gatlin verliert die Contenance

Die Contenance verliert irgendwann auch Justin Gatlin. Lange hat er versucht, ruhig zu bleiben, er hat erklärt, dass er Buh-Rufe ignoriert hätte: „Entscheidend ist: Die Menschen, die mich lieben und die ich liebe, die jubeln für mich. Das hat mir geholfen, den Druck von mir zu nehmen.“ Dann wird es aber auch ihm zu viel, die Fragerei nach seiner Vergangenheit, dem Doping, seiner Rolle als Bösewicht der Leichtathletik. Ob er wenigstens ansatzweise verstehen könne, warum ihn die Leute nicht mögen? „Ihr sitzt hier rum und tippt auf eure Computer“, bricht es aus Gatlin heraus. „Wir arbeiten hart, trainieren jeden Tag, wir geben unsere Bestes. Allein die Medien haben mich zum Bad Boy gemacht.“

Um diplomatischere Töne ist hinterher Sebastian Coe bemüht, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes. Gatlin sei „berechtigt, hier zu sein“, sagt der Brite. Doch weiß auch er: Schlimmer hätte es nicht kommen können, als dass ausgerechnet Gatlin den Thron besteigt, den die Lichtgestalt Bolt nun für alle Zeiten verlassen hat. Er habe sich „ein anderes Drehbuch“ gewünscht, räumt Coe ein, es mache ihn „nicht euphorisch, wenn einer, der zwei Dopingsperren abgesessen hat, mit einem unserer glitzernden Preise davongeht“. Immerhin will die IAAF den Schock zum Anlass nehmen, sich neue Gedanken über lebenslange Sperren zu machen, die von vielen Athleten längst gefordert werden.

Am Ende des Abends darf dann übrigens auch noch Christian Coleman etwas beitragen. Wie er denn die Dopingdebatte beurteile, wird der Silbermedaillengewinner gefragt. „Ich denke, es ist alles gesagt.“