Seit 1951 haben die Richter des Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz ausgelegt und so die Gestalt der Bundesrepublik mit geformt.

Stuttgart - Es sei ein Grundrecht, dass die Reichsten der Gesellschaft nicht mehr als die Hälfte des Einkommens an den Staat als Steuer abgeben müssten, sagten die Verfassungsrichter 1995 in ihrer Entscheidung, die dazu führte, dass es keine Vermögensteuer mehr gibt. Sie sagten damals nicht, der Gesetzgeber müsse nur die Höhe der von ihm geforderten Steuern nachvollziehbar begründen.

 

Es ist ein Grundrecht der Ärmsten der Gesellschaft, dass der Staat ihnen ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährt, das auch ein Mindestmaß der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlaubt. Das sagten die Verfassungsrichter 2010 in ihrem Urteil zu Hartz IV. Aber sie schränkten sofort ein: Der Staat habe bei der Berechnung einen weiten Ermessensspielraum. Es genüge, wenn seine Berechnungen nachvollziehbar und schlüssig seien.

Nun folgt die dritte Richter-Generation

Das ist der Unterschied. Das ist der Wandel der Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts. Das Grundrecht auf ein Existenzminimum verkommt, anders als das Steuerrecht, zu einem Grundrecht auf ein rationales Gesetzgebungsverfahren. Dafür kann man sich nichts kaufen.

Die Zeiten ändern sich und mit ihnen das Bundesverfassungsgericht. Die Richter wechseln. Und noch nie haben diese Wechsel das Gericht so nachhaltig verändert wie in den vergangenen Monaten. Auf die erste Generation, die die Nazidiktatur noch erlebt hat, auf die zweite Generation, die in der so engen, aber auch beschützten Bonner Republik sozialisiert worden ist, folgt nun die dritte, die in einer globalisierten Welt groß und an ausländischen Universitäten ausgebildet worden ist, für die die typisch deutsche eine von vielen möglichen Lebenswirklichkeiten ist.

Auf Dogmatiker folgen Pragmatiker

Auf die Dogmatiker, die Liebhaber der juristischen Hochgotik, folgen Pragmatiker, für die auch das Recht aushandelbar ist, für die die deutsche Rechtsordnung und die Rechtstraditionen im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen und Traditionen stehen. Sie sind geschmeidiger, kompromissbereiter, auch politischer. Die Knörze, die Karlsruhe auch geprägt haben, sterben aus. Das Gericht, das immer wieder einmal aus der Zeit gefallen, in seinen besten Zeiten ihr ein bisschen voraus war, war noch selten so nahe am Zeitgeist wie jetzt.

Die Pragmatiker ersticken in Arbeit, aber sie haben scheinbar nicht mehr viel wirklich Wichtiges zu tun. Sechzig Jahre lang wurden die großen Furchen gepflügt, auch völlig abseitige verfassungsrechtliche Äckerchen gepflegt, bis hin zum Grundrecht auf einen Treppenlift. All die Themen, an denen sich Verfassungsrichter traditionell gern abarbeiten, sind entschieden. Da bleibt nicht viel, um sich zu beweisen zu können. So scheint es.

Die Herausforderung der Globalisierung

Wäre da nicht Europa, wäre da nicht die Herausforderung der Globalisierung. Würden nicht im Westen des blauen Himmels, den die Karlsruher allein über sich wähnten, nun schon seit Jahren der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg und der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof dräuen. Den Alten in Karlsruhe erschienen die beiden Institutionen als Bedrohung und Herausforderung. Die Neuen versuchen sich mit ihnen zu arrangieren.

Doch es geht nicht allein darum, dass Karlsruhe seinen Alleinvertretungsanspruch verliert bei der Interpretation der Menschenrechte - und damit auch Macht und Bedeutung. Es muss nichts schaden, wenn es ein bisschen mehr Wettbewerb in einem europäischen Verfassungsgerichtsverbund gibt. Wenn die Bürger plötzlich begreifen, dass auch Verfassungsgerichtsentscheidungen Menschenwerk sind mit Urteilen, die von einem konkurrierenden Gericht mit derselben Überzeugungskraft ganz anders entschieden werden können. Es kann helfen, wenn am Karlsruher Heiligenschein ein bisschen gekratzt wird.

Konkurrenz kann auch hinunterziehen

Der Kern des Problems ist die Qualität der Arbeit. Was immer man am Bundesverfassungsgericht kritisieren mag, es lebt von einem sechzigjährigen Erfahrungsschatz. Und es gründet auf alten, gewiss: an manchen Stellen üblen Rechtstraditionen, Werten, auch höchst problematischen Werten, Lebensgefühlen, kurz auf Gemeinsamkeiten, auch Fehlern, die gemeinsam gemacht worden sind. Das prägt. Und das schlägt sich in der Qualität von Urteilen nieder.

Was alle Beteiligten wissen, aber niemand zu sagen wagt: die Überzeugungskraft der Luxemburger, auch der Straßburger Urteile ist von minderer Güte. Das ist kein Wunder. Das Recht wird in Europa noch immer auf höchst unterschiedlichen Wegen gefunden. Europas Richter tun sich in vielfacher Hinsicht schwer, einander auch nur zu verstehen. Gerade deshalb werden sie so rasch zu einer verschworenen Gemeinschaft. Konkurrenz kann auch hinunterziehen. Man sieht es in Karlsruhe.

Karlsruhe wird noch Spanndienste leisten

Deshalb ist es so verhängnisvoll, dass das Bundesverfassungsgericht den Machtkampf aufgegeben hat - so ganz anders als zur Zeit seiner Anfänge. Nie wäre das Gericht zu dem geworden, was es geworden ist, wenn die Altvorderen sich so verhalten hätten wie die Richter heute.

Den großen europäischen Acker werden nun andere bestellen. Karlsruhe wird noch Spanndienste leisten. Aber es gäbe noch ein anderes riesiges Feld, um das sich die Verfassungsrichter in all den Jahren nie gekümmert haben. Die Arbeitswelt, jedenfalls die Arbeitswelt außerhalb der Studierstuben von Professoren, hat sie selten interessiert. Es gibt Ausnahmen: Die Barhufpfleger wurden in Karlsruhe im Eilverfahren vor einerBenachteiligung gegenüber den Hufschmieden geschützt.

Richter kennen die Situationen nicht

Die Orte aber, wo der Alltag voller Probleme und Konflikte steckt, wo Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen, wo sie für Hungerlöhne arbeiten, deklassiert werden, kennen sie nicht. Mit Beschäftigungsgarantie und Pensionsberechtigung, zumeist aufgewachsen in Familien mit Beschäftigungsgarantie und Pensionsberechtigung, haben sie solche Situation (von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht selbst erlebt. Das Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit meiden sie wie der Teufel das Weihwasser. Mit der Würde des Menschen hat das alles aber schon etwas zu tun.

Das war schon in den vergleichsweise idyllischen Zeiten der Bonner Republik so. Die Richter haben damals nicht geübt, sich lieber Themen gewidmet, die ihnen näher waren. Deshalb wurde unter Berufung auf die Menschenwürde in Deutschland bereits einmal eine Volkszählung gekippt, bis heute aber kein Stundenlohn von 5,20 Euro, von dem kein Mensch leben, geschweige denn sein Kind ernähren kann.

Richter stehen Globalisierung fassungslos gegenüber

Auch weil sie damals nicht geübt haben, weil es sie nie interessiert hat, stehen die Richter heute der Globalisierung, die nun bis in die Karlsruher Stuben hineinpfeift, so fassungslos gegenüber. Das jüngste Urteil zum Eurorettungsschirm, das wenig bewirken wird, ist insoweit konsequent. Es hat eine lange Vorgeschichte, eine Geschichte des Desinteresses und des Abwehrens. Das Urteil ist aber auch ein Schlusspunkt. Das Gericht gibt auf diesem zentralen Feld seinen Anspruch auf, durch Recht noch Frieden stiften zu können.

Zugegeben: es war einfacher, Kruzifixe aus Klassenzimmern zu verbannen.

Hintergrund: Bundesverfassungsgericht

Organisation: Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern. Die Zuständigkeit ist durch das Gesetz und die Geschäftsordnung vorab festgelegt. Der Erste Senat ist stärker für die Grundrechte der Bürger, der Zweite stärker für Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen zuständig.

Verfassungsbeschwerde: Jeder Bürger, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, kann eine Verfassungsbeschwerde erheben. 2010 gab es 6251 Beschwerden. Nur 2,5 Prozent der Beschwerden sind im langjährigen Durchschnitt erfolgreich.

Normenkontrolle: Nur das Bundesverfassungsgericht darf ein Gesetz für verfassungswidrig erklären. Entsprechende Anträge können andere Gerichte, die Bundesregierung, eine Landesregierung oder mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestags stellen. Normenkontrollklagen sind relativ selten, 2010 gab es 19 neue Vorlagen von Gerichten.

Organstreit: Das Verfassungsgericht entscheidet auch über Streitigkeiten wegen der Rechte und Pflichten zwischen Verfassungsorganen, beispielsweise zwischen Bundestag und Regierung, oder zwischen dem Bund und den Ländern. Die Verfahren sind sehr selten, meist spektakulär. 2010 gab es 4 neue Verfahren.

Sonstige Verfahren: Karlsruhe entscheidet auch über Wahlprüfungsbeschwerden und Parteiverbote, theoretisch über Anklagen gegen den Bundespräsidenten oder gegen Richter.

Kammern: Das Massengeschäft der Verfassungsbeschwerden wird in Kammern mit jeweils drei Richtern erledigt, die die Beschwerde ablehnen dürfen, wenn sie ihnen unbegründet erscheint, und ihnen stattgeben dürfen, wenn sie "offensichtlich begründet" ist. Eine oft unterschätzte Rolle im Verfassungsgericht spielen die wissenschaftlichen Mitarbeiter ("Hiwis") der Richter, die viele Entscheidungen vorbereiten und so einen großen Einfluss haben.