Der Richter verfügt einen Freispruch zweiter Klasse und spart nicht mit Kritik an den Medien. Im Saal herrscht Betroffenheit.

Mannheim - Er lacht den Vorsitzenden Richter aus, immer wieder. Das gibt es während der Urteilsverkündung in einem Strafprozess nur ganz selten. Der Verteidiger eines soeben Freigesprochenen macht sich über jene lustig, die seinen Mandanten freigesprochen haben. Johann Schwenn, der Verteidiger Jörg Kachelmanns, verhält sich so. Bei einem anderen könnte man auf die Idee kommen, er lache aus Verlegenheit. Johann Schwenn hätte allen Anlass, verlegen zu sein. Denn nur ganz selten ist ein Verteidiger in einer Urteilsbegründung so harsch, gleichzeitig aber auch so gut begründet angegangen worden wie Schwenn von dem Vorsitzenden Michael Seidling. Aber ein Schwenn ist nie verlegen. Dazu bedürfte es ja eines Minimums an Fähigkeit zur Selbstkritik.

 

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Seidling bescheinigt Schwenn, er habe während der Verhandlung Anstand und Respekt vermissen lassen: „Der Kammer zu unterstellen, sie sei nicht bestrebt, die Wahrheit herauszufinden, und sie stattdessen mit dem Vorwurf zu überziehen, sie verhandele, bis etwas Belastendes herauskomme, ist schlicht abwegig. Im Ergebnis wird meinen Kollegen und mir jegliche Professionalität und jegliches Berufsethos abgesprochen.“ Schwenn habe dem Ansehen der Justiz Schaden zugefügt.

Der Anwalt seinerseits tritt später, nach dem Ende der Urteilsbegründung, noch einmal nach: „Von diesem Gericht war kein besseres Urteil zu erwarten. Die Kammer war befangen und den Anforderungen an diesen Prozess nicht gewachsen“, diktiert er in die Mikrofone der Fernseh- und der Rundfunkreporter, die ihn umlagern wie einen Filmstar. Er spricht dann auch noch von einer „Erbärmlichkeit, die ihresgleichen sucht in einem Gerichtssaal“; die Richter hätten „richtig nachgetreten“, um seinen Mandanten „maximal zu beschädigen“.

Jörg Kachelmann lacht an diesem Tag nicht, vor dem Urteil nicht und auch nicht während der für ihn wenig schmeichelhaften Urteilsbegründung. Er lässt auch kaum eine Regung erkennen, als Seidling kurz nach 9 Uhr verkündet: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Es sind die Zuschauer, die in diesem Augenblick klatschen und in einen kurzen Jubel ausbrechen, bis Seidling damit droht, den Saal räumen zu lassen. Später ist es aber ganz still im Saal. Es ist eine aufmerksame Stille. Nur Schwenn lacht.

"Es war kein besseres Urteil zu erwarten"

Der Tag hat früh begonnen für einige der Zuhörer. Die ersten stehen bereits vor fünf Uhr morgens draußen auf dem Gehweg, um Stunden später über den Hintereingang ins Gerichtsgebäude eingelassen zu werden. Um 8.30 Uhr ist die Schlange vor dem Gerichtsgebäude so lang, dass die Wartenden keine Chance mehr haben, in den Verhandlungssaal hineinzukommen.

Kurz nach halb neun wird Kachelmann von seiner Pflichtverteidigerin Andrea Combe in die Tiefgarage des Gerichtsgebäudes gefahren. Es ist eine Spießrutenfahrt. Bereits als der Wagen an der Kreuzung vor der roten Ampel anhalten muss, eilen die Fotografen heran, drängen sich gegen die Seitenscheiben. Andere haben sich mit Leitern und Bänkchen ausgestattet. Fotografen springen vor den fahrenden Wagen, versperren den Weg. Es bleibt Combe nichts anderes übrig als auf Risiko im Schritttempo in die widerwillig beiseitespringende Menschenmeute hineinzufahren. Von den zahlreichen Polizeibeamten im und um das Gericht herum ist in diesem Moment nichts zu sehen. Zwei Justizbeamte schauen zu.

Michael Seidling kritisiert in seiner mündlichen Begründung hart und ausführlich auch die Medien, bevor er zum Kern des Urteils vorstößt. Nur „einige Medienvertreter“ hätten „sachgerecht und ausgewogen berichtet“, so wie es die Aufgabe der Presse sei. Stattdessen habe es während des Prozesses vorschnelle Prognosen gegeben, Fakten seien einseitig präsentiert worden und die Wertungen hätten lediglich den Anschein von Sachlichkeit gehabt. Dies sei zwar womöglich ein „Garant für Schlagzeilen und Verkaufszahlen“ gewesen, für die Wahrheitsfindung aber abträglich. Auch die Medien hätten die Akzeptanz des Urteils in der Öffentlichkeit erschwert und dem Ansehen der Justiz geschadet, so Seidling.

„Mit Befremden“ habe das Gericht Aufrufe an die Bevölkerung registriert, über Schuld und Unschuld des Angeklagten abzustimmen. So verkomme ein Gerichtsverfahren zu einem Event. „Mit öffentlicher Kontrolle der Gerichte durch die Medien hat diese Form der Medienarbeit nichts zu tun.“ Noch härter geht Seidling mit den Foren und Kommentaren im Internet ins Gericht. Unter dem Deckmantel der Anonymität seien die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten, der Nebenklägerin, aber auch des Gerichts „mit Füßen getreten worden“. Die Betroffenen hätten sich dagegen nicht effektiv zur Wehr setzen können.

In dubio pro reo

Dies stimmt nicht so ganz. Zumindest Kachelmann und seine Verteidiger haben mit großer Intensität Berichte, die ihnen nicht genehm waren, mit den Mitteln des Presserechts zu beeinflussen, gleichzeitig aber auch virtuos Medien für ihre Interessen zu beeinflussen versucht. Seidlings Medien-, aber auch Bürgerkritik gipfelt in dem Satz: „Ob einer Hauptverhandlung für die breite Öffentlichkeit ein ausreichender Unterhaltungswert zukommt, ist für die Beurteilung der Schuldfrage und damit für die Gestaltung der Hauptverhandlung ohne Belang. Das Gericht ist bei der Durchführung der Hauptverhandlung nicht der Befriedigung des Sensations- und Unterhaltungsinteresses verpflichtet.“ Da bricht aus den Berufsrichtern schon in der Wortwahl jene Anspannung heraus, unter der sie monatelang gestanden haben. Da verlieren sie ihre Souveränität, schießen übers Ziel hinaus und mindern die Qualität der berechtigten Medienschelte zuvor.

Annähernd die Hälfte der Urteilsbegründung widmet die Kammer so Aspekten, die mit Kachelmann und der ihm vorgeworfenen Tat nur bedingt zu tun haben. Der sachliche Kern des Urteils ist kurz und bündig: „Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann und damit im Gegenzug von einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt ist. Es bestehen aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel an der Schuld von Herrn Kachelmann. Deshalb ist er nach dem Grundsatz ,in dubio pro reo‘ (im Zweifel für den Angeklagten) freizusprechen.“ Das ist ein Freispruch zweiter Klasse, den es so offiziell nicht mehr gibt.

Seidling betont, dass nach Überzeugung der Kammer sowohl Kachelmann als auch die Hauptbelastungszeugin in mehreren Punkten nachweislich gelogen haben. Kachelmann habe seine manipulativen Fähigkeiten nicht nur bei der Nebenklägerin, sondern auch bei anderen Frauen eingesetzt. Unter Verweis auf die Nebenklägerin sagt der Vorsitzende, es sei ein weit verbreiteter Irrglaube, dass jemand, der in einem Nebenpunkt lügt, auch im Kernpunkt die Unwahrheit sagt. Für die Nebenklägerin spreche, dass sie zügig Anzeige erstattet habe, bereit gewesen sei, alle Untersuchungen über sich ergehen zu lassen, als Zeugin unter dem Druck der Hauptverhandlung ausgesagt habe, sich einer Therapie unterziehe und nach der angeblichen Tat ihr Wesen verändert habe.

Dennoch seien ihre Aussagen von Mängeln behaftet gewesen; die Frau habe bewiesen, dass sie in der Lage sei, auch über eine längere Zeit Lügen glaubhaft aufrechtzuerhalten. Dies sei keine tragfähige Grundlage für eine Verurteilung. Auch die Sachbeweise hätten für eine Verurteilung nicht ausgereicht.

Schwenn badet in der Medienöffentlichkei

Am Ende findet Seidling noch einmal überzeugende, sehr persönliche und auch menschlich anrührende Töne. Die Kammer sei überzeugt, juristisch die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Befriedigung verspüren wir dadurch jedoch nicht... Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit dem Gefühl, ihren jeweiligen Interessen durch unser Urteil nicht ausreichend gerecht geworden zu sein.“ Der Richter mahnt das Publikum: „Versuchen Sie, sich künftig weniger von Emotionen leiten zu lassen. Unterstellen sie die jeweils günstigste Variante für Herrn Kachelmann und Frau D. und führen sie sich dann vor Augen, was beide möglicherweise durchlitten haben.“

Während Johann Schwenn lacht, wischt sich die Nebenklägerin D., die sich auch den Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal angetan hat, die Tränen aus den Augen. Das ist der Unterschied.

Nach dem Urteil verlässt Kachelmann mit seiner Pflichtverteidigerin das Gebäude, ohne noch eine Stellungnahme abzugeben. Derweil badet Johann Schwenn in der Medienöffentlichkeit. Während alle Kameras auf den Anwalt gerichtet sind, steht der Vertreter der Staatsanwaltschaft in einer Ecke und erklärt den vier Journalisten, die sich für ihn noch interessieren, seine Behörde werde prüfen, ob sie in die Revision gehen werde.

In Ermangelung weiterer Gesprächspartner interviewen Journalisten Journalisten. Dann hat das Landgericht Mannheim wieder Ruh. Die Diskussion verlagert sich in die Talkshows des Fernsehens.

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Die wichtigsten Stationen des Verfahrens

8./9. Februar 2010: Vor seiner Abreise zu den Olympischen Spielen nach Vancouver kommt es zum Streit Jörg Kachelmanns mit seiner Freundin, die ihn verlassen will. Danach soll er ihr ein Messer an den Hals gesetzt und sie vergewaltigt haben. Am nächsten Tag erstattet die Frau Anzeige.

25. Februar 2010: Das Amtsgericht Mannheim erlässt Haftbefehl.

20. März 2010: Kachelmann wird bei seiner Rückkehr am Frankfurter Flughafen festgenommen und in die Justizvollzugsanstalt Mannheim gebracht. Der Vollzug wird mit Fluchtgefahr begründet.

22. März 2010: Kachelmanns Anwalt Reinhard Birkenstock bezeichnet die Vorwürfe der Frau als frei erfunden.

19. Mai 2010: Wegen des Verdachts der Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall und gefährlicher Körperverletzung erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage.

1. Juli 2010: Das Landgericht Mannheim will den Haftbefehl nicht aufheben. Kachelmann sei weiter dringend tatverdächtig. Sein Anwalt hatte Haftbeschwerde eingelegt.

9. Juli 2010: Das Landgericht Mannheim eröffnet das Hauptverfahren. Prozessbeginn soll der 6. September sein.

15. Juli 2010: Kachelmann verbringt seinen 52. Geburtstag hinter Gittern.

29. Juli 2010: Das Oberlandesgericht Karlsruhe hebt den Haftbefehl gegen Kachelmann auf. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr.

6. September 2010: Der Prozess beginnt und wird gleich wieder vertagt. Kachelmanns Anwälte hatten zuvor Befangenheitsanträge gegen zwei Richter gestellt.

27. Oktober 2010: Nach mehr als 20 Stunden wird die Vernehmung der ehemaligen Geliebten abgeschlossen.

29. November 2010: Kachelmann wechselt überraschend seine Verteidiger – Reinhard Birkenstock und Klaus Schroth beenden das Mandat, es übernimmt der Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn. dpa