Reutlingen will selbstständig werden – und den gleichnamigen Landkreis verlassen. Entscheiden kann das nur der Landtag, und der sagte kurz vor Weihnachten nein. Doch die Stadt hat noch einen Pfeil im Köcher.

Stuttgart - Auf den Verfassungsgerichtshof des Landes wartet eine besondere Aufgabe: In diesen Tagen wird die Stadt Reutlingen die Verfassungsbeschwerde gegen die vom Landtag verweigerte Stadtkreisgründung einreichen. Die Regierungsfraktionen Grüne und CDU hatten kurz vor Weihnachten den Antrag der 116 000-Einwohner-Stadt Reutlingen abgelehnt, sich vom Landkreis Reutlingen zu lösen. Reutlingen ist die einzige Stadt dieser Größenordnung in Baden-Württemberg, die noch zu einem Landkreis gehört. Ulm, Heilbronn oder Pforzheim – allesamt Städte vergleichbarer Größe – sind Stadtkreise.

 

Am Dienstagabend stellte Oberbürgermeisterin Barbara Bosch ihrem Gemeinderat die von dem renommierten Verwaltungsrechtler Klaus-Peter Dolde verfassten Klageschrift vor. Bosch sagte unserer Zeitung: „Diejenigen im Parlament, die gegen den Antrag der Stadt Reutlingen stimmten, haben sich nicht ernsthaft mit unserem Anliegen auseinandergesetzt.“ Der Landtag habe sich aus der Verantwortung gezogen, „er ist auf unsere Argumente gar nicht eingegangen“. Die Stadt habe das Recht auf eine umfassende Abwägung durch den Landtag, dies sei aber nicht geschehen. In der letzten Parlamentssitzung vor Weihnachten hatten Grüne und CDU in einem Entschließungsantrag den Stadtkreis Reutlingen abgelehnt, dafür aber einen „moderierten Dialog“ der Stadt mit dem Landkreis empfohlen. Beide Seiten sollten besprechen, „ob und welche Zuständigkeiten in eigener Verantwortung an die Stadt übertragen werden können“.

Landtag schlägt Zwitterlösung vor

Bosch wirft den Regierungsfraktionen vor, sich vor einer Entscheidung gedrückt und den Ball wieder nach Reutlingen zurückgespielt zu haben. Doch den nimmt die Oberbürgermeisterin nicht an, sondern kickt ihn umgehend nach Stuttgart zurück. Gespräche mit dem Landkreis hätten nur Sinn, sagt sie, wenn der Landtag klare Vorgaben mache, was möglich sei und was nicht. Denn Stadt und Landkreis seien bei etwaigen Vereinbarungen etwa im Finanzausgleichsgesetz am Ende ohnehin wieder auf das Parlament angewiesen. „Die Regierungsfraktionen müssen sagen, innerhalb welcher Grenzen wir überhaupt Gespräche führen können“, sagt Bosch. Sie müssten sagen, ob es „rote Linien“ gebe, jenseits derer keine gesetzlichen Regelungen möglich seien. In einem Brief an die Abgeordneten Hans-Ulrich Sckerl (Grüne) und Thomas Blenke (CDU) schlug Bosch den früheren Amtschef des Staatsministeriums, Klaus-Peter Murawski, als Moderator der Gespräche mit dem Landkreis vor.

Was den Regierungsfraktionen offenkundig vorschwebt, ist ein Zwitter zwischen einem Stadtkreis, der Reutlingen nicht werden darf, und einer Großen Kreisstadt, was Reutlingen derzeit ist. Es sollen nur einzelne Zuständigkeiten vom Landkreis an die Stadt gehen. Das spiegelt die Meinungsunterschiede innerhalb der Regierungskoalition wider, deren einer Teil, die Grünen, Reutlingen zuneigt, der andere Teil, die CDU, indes dem Landkreis die Stange hält.

An der Spitze der ländlichen Landkreise

Der Verwaltungsrechtler Dolde argumentiert in seinem Schriftsatz, das Verlangen nach einem Stadtkreis trage dem „verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrecht der Stadt Reutlingen Rechnung“. Dies entspreche dem Vorrang der Gemeindeebene vor der Kreisebene und diene damit der Subsidiarität wie auch dem Demokratieprinzip. Die Stadt Reutlingen sei hinreichend leistungsfähig, die Aufgaben eines Stadtkreises wahrzunehmen. Umgekehrt bleibe auch der Landkreis lebens- und leistungsfähig. Er umfasst gegenwärtig etwa 286 000 Einwohner, ohne die Stadt Reutlingen wären es noch rund 170 000. Damit, so Dolde, blieben immer noch elf Landkreise im Südwesten mit weniger Einwohnern als der Landkreis Reutlingen minus Stadt Reutlingen. 13 Landkreise verfügten über eine geringere Steuerkraft. Dolde schreibt: „Die Struktur des Landkreises Reutlingen wird durch das Ausscheiden der Stadt Reutlingen homogen. In seinem neuen Zuschnitt stünde er an der Spitze der ländlich strukturierten Landkreise in Baden-Württemberg.“