In der Debatte über Lockerungen der Corona-Regeln hat der Rat von Wissenschaftlern Gewicht – die politische Entscheidung bleibt ein Wagnis.

Berlin - Die Ministerpräsidenten der Länder und Kanzlerin Angela Merkel wollen an diesem Mittwoch erste Schritte für den Ausstieg aus dem Shutdown beschließen. Die Ratschläge und Erwägungen dazu sind unterschiedlich. Ein Überblick:

 

Auf welcher Grundlage diskutieren die Regierungschefs ihr Vorgehen?

Nach der letzten Kabinettssitzung in der vergangenen Woche hatte Merkel klar gemacht, dass für die Entscheidung über mögliche Lockerungen des Shutdowns die Einschätzungen zweier wissenschaftlicher Einrichtungen für sie maßgeblich sind: Dazu gehören die Zahlen und Prognosen des Robert-Koch-Instituts zur Entwicklung der Infektionsrate in der Corona-Pandemie. Und dazu gehört die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina – die Forscher hatten am Ostermontag in einem 16-seitigen Papier empfohlen, unter bestimmten Voraussetzungen als erstes Schulen teilweise zu öffnen und auch die Beschränkungen in Einzelhandel, Behörden und Gastgewerbe zu lockern. Auch die Länderchefs holten sich Rat von Experten ein – besonders hat sich dabei der Nordrhein-Westfale Armin Laschet profiliert, der bei dem Bonner Virologen Hendrik Streeck eine eigene Studie des Infektions-Hotspots in Heinsberg in Auftrag gab.

Was sind die Papiere der Experten schuldig geblieben?

Die Wissenschaftler empfehlen zwar, wie die Lockerung von Maßnahmen schrittweise vonstatten gehen könnte – eine Entscheidung aber nehmen sie der Politik in keinem Fall ab: die Antwort auf die Frage, wann die nötigen Voraussetzungen erfüllt beziehungsweise wie Sicherheitsmaßnahmen zu garantieren sind. Konkrete Terminempfehlungen, wissenschaftlich unterlegt, sucht der Leser vergeblich. In Kreisen der SPD-regierten Länder ist gar von einem „wenig hilfreichen Besinnungsaufsatz“ die Rede, der gar nicht begründe, was anhand des aktuellen Infektionsgeschehens jetzt überhaupt vertretbar sei.

Welche Voraussetzungen für eine Öffnung sind formuliert worden?

Als Bedingung für Lockerungsschritte nennen die Forscher die Einhaltung der Hygieneregeln unter den dann geänderten Gegebenheiten. Auch Masken oder Nasen-Mundschutz gehören zu den Empfehlungen – die Leopoldina plädiert für eine Pflicht im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), einige Länder und auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) fordern eine Tragepflicht für Schüler. Vor allem aber verlangen die Wissenschaftler neben umfassenden Coronatests, deren massenhafte Anwendung noch nicht in Sicht ist, eine Stabilisierung der Infektionsrate auf niedrigem Niveau. Auch davon kann laut dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, aber noch keine Rede sein. Er sah am Dienstag noch keine Hinweise darauf, dass die Coronavirus-Epidemie in Deutschland eingedämmt sei; vielmehr ist es bislang lediglich gelungen, sie zu verlangsamen, vor allem durch das Einhalten der Abstandsregeln. Eine prominente Gegenmeinung in der „Exitdebatte“ kommt deshalb von vier Professoren der Helmholtz-Gemeinschaft: Sie empfehlen, die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen so wie jetzt für weitere drei Wochen aufrechtzuerhalten. Ihr Argument lautet, die Maßnahmen würden zum jetzigen Zeitpunkt von einer großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert. Sie jetzt zu unterbrechen und möglicherweise später wieder aufnehmen zu müssen, sei ein zu hohes Risiko.

Welche Rolle spielt die Sorge vor einer zu frühen Lockerung?

Die Kanzlerin hat schon vergangene Woche gewarnt, angesichts erster kleiner Erfolge im Kampf gegen die Pandemie jetzt „leichtsinnig“ zu werden. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann teilt diese Sorge. „Ein zu weitreichendes Lockern der Vorgaben könnte innerhalb kurzer Zeit erneut eine exponentielle Ausbreitung des Virus verursachen“, heißt es in einem internen Vorbereitungspapier für die Ministerpräsidentenkonferenz, das zuerst eine schrittweise Öffnung von Schulen, Einzelhandelsgeschäften, öffentlichen Einrichtungen mit Kundenverkehr sowie Gotteshäusern und in einer zweiten Etappe die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs vorsieht: „Wir wären dann gezwungen, das öffentliche Leben erneut komplett herunter zu fahren.“ Die Folgen wären diesmal noch dramatischer.

Wie könnte eine Rückkehr in die Schulen konkret aussehen?

Die Frage der Wiedereröffnung von Schulen ist besonders heiß umkämpft und diskutiert – dabei geht es mehr um die soziale als die wirtschaftliche Komponente. Die Experten kommen zu gegensätzlichen Empfehlungen: Die Leopoldina schlägt vor, zuerst Grundschulen und Sekundarstufe 1, also bis zur Altersstufe der Klasse 10, wieder zu öffnen, sobald die nötigen Voraussetzungen etwa bei der Hygiene erfüllt sind. Kleinere Kinder bräuchten die meiste Unterstützung, ältere Schüler könnten eher digitale Lernformen nutzen. Bei der Rückkehr in die Schulen mit nicht mehr als immer jeweils 15 Kindern im Klassenzimmer seien die Abstandsregeln enorm wichtig, dazu sollten Pausen gestaffelt werden, damit der Schulhof kein Ansteckungsherd wird. Der Unterricht soll sich, außer bei Abschlussklassen, auf Kernfächer wie Mathematik und Deutsch konzentrieren. Das Robert-Koch-Institut plädiert dagegen dafür, Schulen zuerst für die älteren Schüler zu öffnen – weil diese die Abstandsregeln besser einhalten könnten, so Wieler. Mit Skepsis hat bereits die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf die Vorschläge reagiert. Viele davon gingen an der Realität vorbei, so die GEW-Chefin Marlis Tepe. So seien bisher Fragen des Infektionsschutzes und der Hygiene in vielen Schulen gar nicht gelöst.