Karies ist keine Zahnkrankheit, sondern zumindest am Donnerstagabend die Band der Stunde in Stuttgart. Die jungen Männer lassen sich durch's Goldmark's tragen und spucken sich an - alles nur für den perfekten Rockkonzertmoment.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Ja ja, werden jetzt manche sagen: vulgäre Jugend und provokante Überschrift macht noch lange keinen Rock'n'Roll. Und es wäre auch vermessen, den Auftritt der Band Karies im Goldmark's am Donnerstagabend mit den wesentlich wilderen Shows vergleichen zu wollen, die gerade in diesem Club in schöner Regelmäßigkeit angeschaut werden können, man denke allein diese Woche an das italienische Noise-Psych-Rock-Paar The Devils, das die christliche Kleiderordnung vulgarisiert. Nein, im Vergleich dazu sind Karies eine sehr anständige, übrigens auch sehr anständig angezogene Band. Dass Kevin Kuhn wie immer in Boxershorts hinterm Schlagzeug ist: geschenkt, sieht man eh nur, wenn er mal kurz aufsteht.

 

Wenn Kuhn allerdings mal kurz aufsteht, dann spuckt er schon mal den Mitmusiker an. In dem Fall trifft es den Bassisten Max Nosek, der einigermaßen irritiert schaut, aber so normal wie möglich weiter spielt. Gut so, denn sein Bass und Kevin Kuhns Getrommel treiben den Karies-Sound nach vorn, und nach einem guten Drittel des Konzerts im Goldmark's tut so ein schleimiger Weckruf ganz gut - gewissermaßen als Analogie zur aufrüttelnden Ansprache des Fußballtrainers, wenn das Team nicht so recht ins Spiel findet. Bis dahin ist nämlich einigermaßen wenig Energie auf der Bühne und das Konzert kein Vergleich zu dem, was man von den jungen Musikern in den einschlägigen Stuttgarter Off-Locations schon gesehen hat.

Benjamin Schröters Gitarre ist schon beim ersten Song kaputt. Und auch sonst tut sich die Band anfangs schwer, in ihren mit repetitiven, im Grunde simplen musikalischen Mustern erzeugten Flow zu kommen. Dabei passen die Zutaten: Kevin Kuhns Rockdisco-Beat, Max Noseks so mächtiger wie präziser Bass, dazu der Kraftprotz Benjamin Schröter an der Rhythmusgitarre sowie der das gesamte Konzert über etwas abwesend dreinblickende Jan Rumpela mit hübschen rhythmischen Gitarrenmelodien. Karies' neues Album "Es geht sich aus" klingt im Autoradio - so es dort je läuft - stark nach Tocotronic, live aber nach Die Nerven, wenngleich der Sound nicht ganz so ruppig in nicht ganz so arge Lärmeskapaden gleitet.

Einer dieser Momente

Mit jedem Schweißtropfen, der neu auf Benjamin Schröters Stirn (und der der Menschen im ausverkauften oder fast ausverkauften Goldmark's) auftaucht, wird der Abend aber besser. Karies kriegen die Steigerung ganz subtil hin sowie über Mimik und Gestik. Die Köpfe reißen beim Break immer ein bisschen heftiger zur Seite, die Snaredrum knallt noch ein bisschen stärker, die Pausen zwischen den Songs werden immer kürzer, Schröters Gesang (zum Ende hin singt fast nur noch er) schneidender. "Es geht sich aus" und "A" sind die beiden letzten Songs vor der Mini-Zugabe, sie entfesseln endgültig den Pogo. Spätestens jetzt droht Zahnverlust nicht mehr durch Mundfäule, sondern wegen wild tanzender Nebenmänner.

Die sind stellenweise geradezu entfesselt. Wie sie den Sänger/Gitarrist Schröter am Bühnenrand vor seinem Absprung ins Menschenbad betatschen, wie Fans und Band eins werden wollen: das ist einer der Rockkonzertmomente, für die sich anderthalb Stunden stoischer Neo-Deutsch-Noise lohnen. Die Nerven (wo Kevin Kuhn ja ebenfalls Schlagzeug spielt) zelebrieren große Noiserock-Kunst, Karies hingegen machen die Fans ganz offen wuschig. Deshalb, und weil man diese Entwicklung des Auftritts am Anfang nicht ahnen konnte, hat sich der Konzertbesuch am Donnerstagabend gelohnt.


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