Tübingen - Nach diesem Museumsbesuch wird man anders durch die Welt gehen. Die Fusseln auf dem Schreibtisch, die geknitterten Blätter im Papiermüll – taugen sie womöglich zur Kunst? Was würde Karin Sander mit all den Deckeln, Nippeln, Fetzchen treiben, die durch unseren Alltag geistern? Als Karin Sander vor vielen Jahren an ihrem Schreibtisch saß, kamen ihr die Heftklammern in die Finger, mit denen gewöhnlich Blätter aneinander getackert werden. Sie tackerte auch, allerdings Muster oder Linien, die an das Meer oder den Horizont erinnern. Plötzlich war ihre Leidenschaft geweckt für „die Dinge, die auf dem Schreibtisch rumliegen“, wie die 64-Jährige erzählt.
Mehr als 1800 „Office Works“ sind im Lauf der Jahre entstanden – und ein großer Teil davon hängt nun in der Kunsthalle Tübingen und wird in den nächsten Wochen sicher für Heiterkeit auslösen. Denn eines Tages hat Karin Sander ihren Radius erweitert und auch in der Küche und im Badezimmer gewildert. Nun darf das Publikum rätseln, was hinter dem hübschen Ornament steckt, das sie auf dem Papier arrangiert hat. „Ein Melonennetz“, erklärt sie. Und die blauen Gummikreise? „Spülbeckeneinlagen.“ Ob Haarklammern, Gummis oder Plastiktüten – Karin Sander macht bewusst, was alles zur Kunst werden kann.
Als Studentin auf der Art Basel entdeckt
Die Kunsthalle Tübingen widmet Karin Sander eine große Einzelausstellung – denn sie ist eine der erfolgreichsten Künstlerinnen, die die Stuttgarter Kunstakademie je hervorgebracht hat. In Stuttgart begann ihr Weg als Schülerin von Jürgen Brodwolf. Ein bisschen Glück war dabei, dass sie zu der Studentengruppe gehörte, die bei der Art Basel einen Tag lang ausstellen durfte. Sie wurde prompt von einer New Yorker Galeristin entdeckt. So ging Karin Sander, die in Metzingen aufgewachsen ist, nach New York und legte dort den Grundstock für eine internationale Karriere. Sie wurde Stipendiatin am New Yorker Whitney Museum und der Villa Massimo Rom. Sie bekam reichlich Preise und stellt heute weltweit aus. Auch das MoMA in New York besitzt einige ihrer „Office Works“.
Der Kurator als Kleinplastik
Und nun steht Karin Sander gleich zweimal in der Kunsthalle Tübingen – sie hat mit einem 3-D-Scanner ein kleines Abbild ihrer selbst gefertigt. Sander war eine der Ersten, die sich die 3-D-Technik bereits zunutze machte, als diese noch in den Kinderschuhen steckte. 2002 richtete sie in der Staatsgalerie Stuttgart ein aufwendiges Labor ein. Darin konnten die Besucher von sich kleine Body-Scans anfertigen lassen, also selbst zur Kunst werden. Für die Fellbacher Triennale Kleinplastik formte sie den künstlerischen Leiter Werner Meyer ab und stellte ihn auf den Sockel – ein frecher Seitenhieb auf jene Kuratoren, die sich gern selbst ins Zentrum rücken.
Ihre zwei Doppelgänger hat sie nun nicht in Farbe, sondern in Schwarz-Weiß gefertigt. Obwohl ihre kurzen Haare und die große schwarze Brille, der Mantel und die modischen Schuhe perfekt dargestellt sind, wirken die beiden Figuren unwirklich, fast immateriell.
Das passt zu einer Künstlerin, die in ihren Werken oft im Hintergrund bleibt und mitunter nicht mal selbst Hand anlegt. Wer zum Beispiel eines von Sanders „Gebrauchsbildern“ kauft, erhält eine nackte Leinwand und einen Arbeitsauftrag, was mit ihr zu tun ist. Mal mussten die Sammler das weiße Bild eine Weile auf den Balkon stellen, mal in die Küche hängen. Eine Leinwand wurde im Sportwagen durch die Gegend gekarrt, eine andere landete im Schweinestall, wo eine Sau es ordentlich malträtierte. „Die Umwelteinflüsse schreiben sich ein“ sagt Sander. Die großformatigen Bilder, die nun in der Kunsthalle Tübingen hängen, standen wochenlang in Berlin auf Baustellen herum. Was andere abstrakte Künstler in mühseliger Handarbeiten fertigen, haben hier Wind und Wetter erledigt.
Für Tübingen wäre ein spezifisches Projekt schön gewesen
Karin Sander hat Witz. Deshalb hängen in der Kunsthalle jetzt auch Wirsing, Paprika, Apfel und Rosenkohl an der Wand, so dass man in den kommenden Wochen wird verfolgen können, was Vergänglichkeit bedeutet. Natürlich bezieht sich Sander bei diesen „Kitchen Pieces“ auf die kunsthistorisch bedeutsame Gattung des Stilllebens. Sie wirft aber auch die große Frage auf, was Kunst überhaupt sein kann.
Immer wieder überführt Karin Sander alltägliche Gegenstände in den Kunstkontext. So hat sie bunte Tischtennisbälle poliert, so dass sie köstlich glänzen wie Edelsteine. In der Staatsgalerie Stuttgart hat sie vor vielen Jahren auch ein Stück Wand poliert, bis es glänzend und spiegelglatt wurde – und damit letztlich zum Bild wurde, das man kaum bemerkt. Sander reagiert bei ihren Ausstellungen oft auf die Historie und die Architektur des Ortes. So bemalte sie nach der Wende in Lodz bei einer Art Sanierungsprojekt private Hauseingänge. Das ehrwürdige MoMA in New York öffnete sie – zumindest optisch: Sie verband Außen- und Innenraum durch Kunstrasen am Boden.
Es wäre sicher spannend gewesen, wenn Karin Sander auch für Tübingen ein spezifisches Projekt konzipiert hätte oder man zumindest einen breiteren Ausschnitt ihres vielseitigen Werks präsentieren würde. Aber auch die Künstlerin wurde durch Corona an den Schreibtisch ihres Berliner Ateliers gezwungen, so dass sie entschied, passend zum Homeoffice ihre „Office Works“ im großen Stil zu zeigen. So ist auch hier letztlich die Mitarbeit des Publikums gefragt. Sander liefert zarte Heftklammer-Linien auf Papier, die Reise ans rauschende Meer muss jeder selbst antreten – in der Fantasie.
Wie funktioniert der Kunsthallen-Besuch in Tübingen?
Für den Besuch der Kunsthalle Tübingen muss ein tagesaktueller negativer Coronatest vorgelegt werden. Er kann in unmittelbarer Nähe der Kunsthalle gemacht werden – etwa in der Teststation Garage Schönbuch-Apotheke, Beim Herbstenhof 11. Außerdem muss ein Zeitfenster im Online-Shop gebucht werden: www.kunsthalle-tuebingen.ticketfritz.de.
Die Ausstellung „Karin Sander“ läuft bis 4. Juli und ist von Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr und am Donnerstag von 11 bis 19 Uhr geöffnet. Ostermontag ist die Kunsthalle ebenfalls von 11 bis 18 Uhr offen. Auch das Café der Kunsthalle kann besucht werden. Führungen finden dagegen nicht statt.
Nach derzeitigem Stand können Museen öffnen, es sei denn, die örtliche Inzidenz liegt drei Tage lang über 100. Da die Zahlen in Stuttgart jüngst gestiegen sind, müssen die Ausstellungshäuser dort ab Mittwoch, 31. März, wieder schließen, während die Kunsthalle Tübingen geöffnet bleiben kann.