„Hölderlins Geister“: In seinem so klugen wie anstößigen Buch holt Karl-Heinz Ott den Dichter vom Sockel – und stellt ihn heimlich wieder drauf.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie nähert man sich den Göttern? Der eine Weg sind erhabene Dichtungen, die das Höchste in einer entzauberten Welt wieder zum Leben erwecken sollen. Der andere ist das Buch, das Karl-Heinz Ott, aufgewachsen und akademisch sozialisiert im schwäbischen Hölderlin-Kerngebiet, dem einsamsten und allerheiligsten Tübinger Geisteshelden gewidmet hat. Jener Weg führt steil nach oben ins Erhabene, wo Bleibendes gestiftet wird, dieser verfolgt nüchtern die Stationen, über die Hölderlins Werk uns heute erreicht. Als heilignüchtern könnte man mit einer Prägung des Dichters die Tonlage von „Hölderlins Geister“ beschreiben, mit denen Karl-Heinz Ott das bevorstehende Jubiläumsjahr eröffnet. Wobei die Tendenz klar vom Heiligen zum Nüchternen weist.

 

Auf diesem Gebiet hat der Romancier und Essayist bereits einiges geleistet. In so kluger wie verständlicher Weise hat er die begriffslose Sprache der Musik in Monografien über Händel und Beethoven zum Reden gebracht. Sein Rousseau-Roman „Wintzenried“ wiederum holt mit trockenem Humor einen listigen Windbeutel und Aufschneider auf den Boden wenig schmeichelhafter Tatsachen zurück.

Rousseau scharwenzelt auch durch das neue Buch. Doch ebenso muss sich Hölderlin einige eher unangenehme Fragen gefallen lassen. Warum beispielsweise rühmt er mit hymnischem Feuer vor allem Haudegen wie Ajax, Achill und Herkules? Wie kommt er ausgerechnet dazu, eine blutrünstige orientalische Rauschgottheit zum Gemeinschaftsstifter zu stilisieren? Und wie geraten seine erhabenen Gesänge in das Sturmgepäck deutscher Wehrmachtssoldaten? Innerhalb der genialen WG-Trias am Tübinger Stift mit Hegel und Schelling erscheint Hölderlin als derjenige, der die Kurve nicht kriegt und in immer entrücktere Sphären entschwebt, während seine Freunde akademische Karrieren machen.

Vaterländischer Vorsänger

Je bezugsloser Hölderlin dem gesellschaftlichen Getriebe gegenübersteht, je mehr er sich als Hauslehrer mit onanierenden Zöglingen aufreibt, je mehr seine Lebensumstände die Sehnsucht nach Zusammenhang hintertreiben, desto emphatischer verliert er sich in eine neue Mythologie der Vereinigung aller Gegensätze. Und desto mehr wird er als Märtyrer im Kampf gegen den zersetzenden Rationalismus der modernen Welt zur Projektionsfigur widerstreitendster Interessen. Hier, im Übergang vom Geist auf die Geister, hat Otts Buch seinen Kern. Auf dem schmalen Grat zwischen Essayistik, Philologie und farbiger Erzählkunst entfaltet es den Spuk der Wirkungsgeschichte, die ihr Wesen und Unwesen im Werk des Dichters treibt.

Heidegger und seine germanistischen Konsorten machen Hölderlin in brauner Zeit zum vaterländischen Vorsänger gegen die jüdisch-christliche Seinsvergessenheit. Und lange blieb der griechisch-germanische Mutterschoß fruchtbar noch, aus dem Hölderlins Verse an den Haaren raunender Erläuterungen in die Unverborgenheit eines mit Y geschrieben Seyns gezogen wurden. Von links verklärte man ihn zum Jakobiner, der in einer mythischen Sprache den Kommunismus vorweggenommen hat, und dessen revolutionärer Geist sich in hinter die Masken des Wahnsinns flüchten musste. Für die Kritische Theorie spiegelt sich im Zerbrechen von Sprache und Form die Fragmentierung des heutigen Lebens, mit Foucault lässt sich seine Verrücktheit als Einspruch gegen die Tyrannei der Rationalität lesen.

Kaum eine Theorie, die sich nicht in das Werk einzeichnen ließe und darin ihre Bestätigung fände. Und vielleicht ist das die eigentliche, geheime Pointe, dieses so klugen wie anstößigen Buches: dass sich jenes „Eines zu sein mit Allem“, an dem Hölderlin im Leben scheitert, in der Theorie erfüllt. So findet am Ende das Nüchterne doch wieder zum Heiligen zurück.

Termin: Am 19. November um 19.30 Uhr stellt der Autor sein Buch bei den Stuttgarter Buchwochen vor.

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister. Hanser Verlag, München. 240 Seiten, 22 Euro.