So schonungslos wie der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard hat noch niemand sich selbst und seine Umwelt in einen Roman verwandelt. Jetzt ist das vorletzte Buch des sechsbändigen Zyklus auf Deutsch erschienen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Alle lesen Knausgard. Es wird beschrieben wie eine Sucht. Man fängt an und kann von dem Stoff nicht mehr lassen. In skandinavischen Ländern sollen schon weite Teile auch der sonst eher bücherfernen Gesellschaft davon befallen sein. Die britische Schriftstellerin Zadie Smith denkt beim Namen des Autors an Crack. Und auch in Deutschland klingen Literaturgespräche bisweilen eher nach Suchtberatung und Medikamentenabusus. Nähern wir uns also diesem Phänomen so nüchtern wie möglich, solange wir dazu noch in der Lage sind.

 

Rund 4000 Seiten umfasst das autobiografische Experiment, das den bis dahin kaum bekannten norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgard in kurzer Zeit zu einem der erfolgreichsten Autoren unserer Zeit gemacht hat. Unter dem ironisch-lapidaren, Massensuggestionen durchaus aufgeschlossenen Titel „Min Kamp“ sind die sechs Bände in Norwegen erschienen. In Deutschland zog man harmlosere Überschriften vor: „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“ und „Leben“. Jeder der Bände gleicht einem Strudel im Mahlstrom der Erinnerung, sie folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern kreisen in sich selbst. Die rückhaltlose Offenlegung des eigenen Lebenskampfes beginnt mit dem Tod des allmächtigen, tyrannischen Vaters, springt im zweiten Band in die Ambivalenzen der eigenen Vaterschaft, innig liebend und doch in der steten Versuchung, sich „wie eine Ratte aus dem Staub zu machen“. Band drei und vier blicken zurück in eine Kindheit und Jugend in Norwegen, Phasen großer Freiheit und noch größerer Angst, getrieben von sexuellen Nöten, vagen Hoffnungen und exzessiven Abstürzen.

Der Loser als Autor

Nun ist das fünfte Trumm auf Deutsch erschienen, „Träumen“. Erzählt wird der Werdegang eines jungen Autors, der sich durch selbst und fremdverschuldete Niederlagen zu seinen ersten Veröffentlichungen durchbeißt und schließlich den Grund legt für das, was der Leser in den Händen hält: die Geschichte eines Lebens, das sich voll und ganz der Literatur verschrieben hat, und ein Stück Literatur, das aus nichts als der radikalen Mitschrift ebendieses Lebens besteht.

Dieser knapp zwanzigjährige Karl Ove, der in Bergen einen Platz in der renommierten Literatur-Akademie ergattert hat, ist ein junger Mann, dem vieles fehlt: Selbstvertrauen, eine überzeugende Probe seines Talents, eine Freundin, weshalb wir ihn hin und wieder beim Onanieren begleiten müssen. Er hält sich im Kielwasser seines großen Bruders, auch dann, wenn dieser ihm das Mädchen seiner Träume ausspannt. Einzig im Suff wächst er über seine Hemmungen hinaus.

„Ich wollte schreiben, aber das konnte ich nicht, denn im tiefsten Inneren meiner Seele war ich vollkommen einsam und allein.“ Zwischen solchen Einsichten und dem Wunsch, ein Star, ein Leitstern für andere zu werden, bleibt er hin und her gerissen. Und wie sich das Werk als Ganzes aus existenziellen Katarakten zusammensetzt, so auch jeder einzelne seiner Teile. Auf allen Ebenen wiederholt sich das immergleiche Muster, grundiert von dem nachts durch die Träume spukenden Vater, dessen Tod hier abermals aus einer anderen Perspektive erzählt wird: Mit seinem besoffenen Hintern reißt Karl Ove immer wieder ein, was er allen Schwierigkeiten zum Trotz klaren Geistes begonnen hatte aufzubauen.

Aggressive Suff-Attacken

Aber entscheidender als die Abfolge der Ereignisse ist das Konzept an sich. Knausgards Monumentalopus ist eine Art literarische Konzeptkunst. Das heißt aber auch, dass die Idee im Ganzen bisweilen überzeugender ist als Dialoge der folgenden Art: „Du verträgst einfach keinen Alkohol.“ – „Stimmt.“ – „Na ja, ich habe keine Lust, hier den Moralapostel zu spielen. Es ist schließlich dein Leben.“ – „Ja, so viel ist jedenfalls sicher.“

Gerühmt wird das Nebeneinander von Banalem und Tiefgründigem, was sich freilich mit gleichem Recht über jeden Furz oder Gallenstein sagen lässt, den der barocke Tagebuchschreiber Samuel Pepys vor der Kulisse des brennenden London dem Vergehen der Zeit entzogen hat. Zumal die existenziellen Betrachtungen bisweilen ähnlich summarisch ausfallen wie die Charakterisierung jener Frauen, die Karl Ove linkisch genug irgendwann für sich einnehmen kann, um sie im Alltagstrott von kleinen Gebietsgewinnen, großen Schreibhemmungen und aggressiven Suff-Attacken wieder zu verlieren.

Die Wonnen des Voyeurs

Ganz ist der Verdacht nicht aus der Welt, den ein Schriftstellerkollege bei der Begegnung während eines Festes in die Welt posaunt: „Da haben wir ja auch Knausgard! Er ist schön, kann aber echt nicht schreiben.“ Niemand freilich wäre von der eigenen Unfähigkeit leichter zu überzeugen als der Autor selbst.

Ein Teil des besagten Soges erklärt sich sicher durch die Genugtuung des Voyeurs, der sich zufrieden zurücklehnt, wenn er feststellt, dass im Nachbarhaus auch nur mit Wasser gekocht wird. Es ist die Lust, in einem fremden Leben herumzuschnüffeln. Wie sieht es bei anderen aus, wenn sie nicht wagen, einem Mädchen im entscheidenden Moment das Richtige zu sagen? Wenn man sich nicht aus dem Haus traut, weil man keine Freunde hat und die Einsamkeit das Letzte ist, das einen noch bezeugt?

Seelenforscher der Popkultur

Spätere Literaturhistoriker werden einmal die Wirkung von Knausgards monumentalem Selbstporträt in Zusammenhang setzen mit dem Selbstbespiegelungswahn der Generation Selfie. Und doch gründet sein Bekenntniswerk viel tiefer als in dem Morast, den die Seifenlauge zeitgemäßer Reality-Formate wässert. Denn nicht aus Egozentrik oder Selbstgefälligkeit zieht dieser sich selbst gegenüber so unduldsame Autor jede noch so dunkle seiner Regungen ans Licht, sondern um der Erlösung willen. Das Offenlegen der eigenen Schlechtigkeit, der Wunsch, Rechenschaft abzulegen, führt zurück an einen Punkt, an dem sich einmal der psychologische Roman religiöser Biografik entschält hat. Knausgard überführt die Tradition der protestantischen Seelenerforschung in die Popkultur. Absolution erteilt hier nicht der Pfarrer, sondern der Leser.

Nichts wünscht sich der junge Karl Ove so sehr, als einmal von der gewaltigen Komplexität erzählen zu können, die ein Mensch ist und von der wir gewöhnlich so wenig wahrnehmen, wenn wir ihn sehen. Knausgard ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Seine radikale Konzentration auf das Tatsächliche liegt nicht vor, sondern hinter all dem, was dem modernen Roman Gestalt verliehen hat. Dessen Formexperimente zielen darauf ab, den Schein zu durchdringen, das Wesentliche zu erreichen, die Übereinstimmung von Welt und Worten zu sichern. Vieles davon erscheint nach der Lektüre dieses Werks nurmehr als haltlose ästhetische Spielerei. Knausgard mag ein schlechter Autor sein, aber sein Ringen darum zählt zum Besten, was die zeitgenössische Literatur zu bieten hat. Sollte dieses paradoxe Urteil etwa ein Indiz für die eingangs erwähnte Sucht sein? Ach egal, Hauptsache, der nächste Band kommt bald.