Karl Sütterlin macht Männer zu Gentlemen. Der 25-Jährige kreiert in seinem Atelier im Schwarzwald Fliegen zum Selberbinden: aus Couchstoff oder mit Ufo-Muster, aus Wildseide oder Tausend-und-einer-Nacht.

Mengen - An der weiß getünchten Wand bröckelt der Putz ab, das Parkett hat seinen Glanz verloren. In der Ecke steht ein rußiger Holzofen, der nur noch selten benutzt wird. Es ist kalt im Atelier. Nur das gleichmäßige Rattern einer Nähmaschine ist zu hören. Karl Sütterlin lässt Cordstoff durch seine Finger gleiten. Er trägt einen groben Strickpullover zur Jogginghose, zu den Birkenstockschlappen schwarze Socken. Hinter ihm steht ein Bügelbrett. Auf einer Werkbank häufen sich Stoffe verschiedenster Farben und Muster: Karos, Punkte, Streifen, Fischgrät. Daneben liegen gedruckte Visitenkarten: „Hans Hermann, Gentlemen’s Equipment.“

 

In diesem wenig glamourösen Atelier in Mengen bei Freiburg gibt es Accessoires für glamouröse Anlässe: Fliegen zum Selberbinden. Neulich erst war Oliver Sorg da. Für seine Hochzeit wollte der Bundesligafußballer von Hannover 96 eine Spezialanfertigung aus dem Schwarzwald. „Karl, sei frei“, hat er gesagt, „aber es muss etwas Besonderes sein.“ Mehr hat es nicht gebraucht, denn um Ideen ist Karl Sütterlin nicht verlegen. Auch Couchstoff oder Herrenhemden hat er schon verarbeitet für seine Fliegen. Für die Hochzeit wurde es letztlich ein Querbinder aus Wildseide. „Die Farbe ging so gegen Apricot“, sagt Sütterlin. Sorg hat auch gleich für seine besten Freunde jeweils eine Fliege anfertigen lassen.

Mengen hat rund 1900 Einwohner und besteht im Grund aus einem einzigen Straßenzug. Karl Sütterlin, 25 Jahre alt, ist hier aufgewachsen. Nach der Schule hat er auf den Philippinen Design studiert. Vor einem Jahr wurde das Atelier eröffnet. Das Label ist nach seinem Vater Hans Hermann benannt. Der Anlass war jedoch alles andere als schön. Weihnachten vor zwei Jahren bekam der Vater die Diagnose Kehlkopfkrebs. „Ich wollte ihm das Label schenken“, sagt Sütterlin, „um ihm zu zeigen, wie wichtig er mir ist.“

Das Atelier ist gleich neben dem väterlichen Hof

Die Fenster hat Karl Sütterlin mit Packpapier verklebt, damit ihn das Licht nicht stört. Nur ein kleiner Spalt gibt einen Blick nach draußen frei. Durch die verstaubte Scheibe sieht man schemenhaft den Kirchturm und die Friedhofsmauer. Sütterlin näht Stoffbahn an Stoffbahn. An der einen Seite schmal, werden sie zum anderen Ende hin breiter. Während er sich konzentriert, schürzt er leicht die vollen Lippen. Darüber verläuft ein schmales Bärtchen. Alles an seinem Gesicht wirkt weich und gutmütig. Seine Augen werden durch den Rahmen einer schwarzen Nerd-Brille verdeckt. Der Dutt am Hinterkopf wippt leicht beim Nähen, ein Haargummi hält das üppige schwarze Haar zusammen, das er von seiner Mutter geerbt hat. Sie kommt von den Philippinen, sein Vater ist ein Landwirt aus dem Dorf. Der Hof liegt gleich neben dem Atelier. Wo Karl Sütterlin Haut zeigt, sind Tätowierungen sichtbar. Eine, direkt unter seinem Hals, fällt besonders auf. Die Zahl 1937 hebt sich dunkel von der blassen Haut ab. Es ist das Geburtsjahr seines Vaters. Während dieser die Strahlentherapie durchlitt, nähte sein Sohn, um sich abzulenken, eine Fliege nach der anderen. Mit der Nähmaschine richtete er sich im Flur des Elternhauses ein – auf zwei Quadratmetern. Über diese Zeit sagt er, fast zu lapidar: „Da war ich etwas fertig, traurig.“

Die Begeisterung für Fliegen kam auf verquere Weise. Über seine Kehle spannt eine Motte ihre Flügel, ein weiteres Tattoo. Sein Chef in dem Modehaus, für das er als Verkäufer tätig war, zeigte sich davon wenig begeistert. „Er meinte, das sei nicht so passend, und ich soll eine Krawatte oder Fliege tragen.“ Sütterlin fand jedoch keine, die ihm gefiel. Also griff er selber zu Faden und Stoff.

Wirklich inspiriert habe ihn jedoch der Stil seines Vaters. Der hatte ihm als Jungen mal eine Krawatte umgebunden. „So bin ich stolz in den Kindergarten“, erzählt Sütterlin. Die Kinder hätten ihn alle komisch angeschaut. Er zuckt mit den Schultern. „Mode ist ein Gefühl für schöne Dinge. Man kann auch als Landwirt einen coolen Style haben.“

Seinem Vater geht es wieder gut, von der Krankheit hat er sich erholt. Und Hans-Hermann-Fliegen werden immer gefragter. Erst wollte im Freundeskreis jeder eine, heute kommen die Kunden aus Stuttgart, München, Hamburg oder der Schweiz. Der Dandy-Style ist gefragt, und damit auch der Querbinder, der lange als ein altbackenes Accessoire galt.

Alles ausverkauft!

Die Wand in seinem Atelier ist übersät mit quadratischen Spanholzplatten, an die er jeweils eine Fliege bindet. Momentan hängen da nur wenige – ausverkauft. „Nächstes Jahr will ich ein paar Helfer einstellen. Außerdem müssen die Räume hier renoviert werden.“ Seine Fliegen sind bereits im Sortiment der Schweizer Kaufhauskette Globus zu finden. Eine aus der Kollektion kostet 70 Euro, Spezialanfertigungen können auch schnell 400 Euro kosten.

Eine Kundin brachte ihm ein Kleid, das sie in der ersten Schulklasse getragen hatte. Für ihren Vater sollte er daraus eine Fliege und ein Einstecktuch machen. „Ich lass die Kunden entscheiden, ob sie mir etwas anvertrauen. Ich will nicht aufdringlich sein“, sagt Sütterlin. Mit der Schere zerschneidet er einen rotgrün-karierten Stoff, wie man ihn von Schottenröcken kennt. Er hält inne und sagt: „Heutzutage hat der Mensch ja schon alles. Geschenke, die einen emotionalen Wert haben, sind da noch etwas Besonderes.“

„Meine Fliegen tragen Superreiche bis Normalos, Abiturienten, aber auch Babys, die vor wenigen Wochen auf die Welt gekommen sind“, sagt er. Einer seiner „mutigsten Kunden“, wie Sütterlin sagt, ist 92 Jahre alt. „Der hat alles Langweilige in seinem Leben schon durch.“ Zuletzt wollte er eine Fliege wie aus Tausendundeiner Nacht. Sütterlin nahm einen Brokatstoff. Rote schmiegten sich an goldene Fäden, ergaben ein verschlungenes Muster. Der Seigneur war zufrieden.

Der Erfolg nimmt ihn in Beschlag. Für eine Freundin hat Karl Sütterlin momentan keine Zeit. Dafür hat er eine Bloggerin, die ihn zu verschiedenen Ausstellungen begleitet. Einmal in der Woche geht er in Freiburg in die evangelische Kirche. „Vor den Eltern und dem Geschäft kommt Gott.“ Regelmäßig liest Sütterlin in der Bibel, am liebsten den Psalm 23. Seine Mutter hat ihm diese Verse als Kind oft vorgelesen. Langsam rezitiert er in die Stille seines Ateliers hinein: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln . . .“

„Ich mag crazy Drucke“

Aus einem Billy-Regal holt er graue Seide. Das Material ist leicht, fühlt sich kühl an und sieht edel aus. Mehr und mehr designt Sütterlin auch Stoffe selber. Dieser ist mit winzigen Ufos, Blitzen und Wolken bedruckt. „Ich mag so crazy Drucke“, sagt Sütterlin. Extravagant hält er auch die Verpackung seiner Fliegen. Jede wird im Schraubglas mit schwarzem Deckel verpackt, inklusive Anleitung zum richtigen Binden. „Eckig, kantig, männlich, maskulin“, beschreibt Sütterlin die Aufmachung. Das Ganze soll an eine Whiskyflasche erinnern. Außerdem trägt jede Fliege ihren eigenen Namen – von „Robin Wood“ bis „Green Peace“ oder „Willy Wonky“. Letztere ist aus Wildseide und in einem Milchschokoladen-Braun gehalten. „Es sind ja alles mehr oder weniger Kids von mir. Ich taufe sie alle“, erklärt er.

Das Logo hat ein Freund aus Kindertagen designt: Daniel Simon aus Hamburg. Er ist auch 25 und studiert Grafikdesign. Simon ist für wenige Tage zu Besuch in Mengen. Während Sütterlin seine Fliegen mit silberfarbenen Klammern zum Verstellen der Größe versieht, sitzt der Freund hinter ihm. „Eigentlich“, sagt er, „würde der Charly besser in die Großstadt passen.“ Sütterlin schmunzelt. Der Charly sei immer schon kreativ gewesen: „Manchmal redest du mit ihm, aber er starrt in die Luft und träumt vor sich hin.“ Das dürfe man ihm nicht übel nehmen, er sei dann in seiner eigenen Welt. „Als wir noch Kinder waren, dachten viele, der ist irre“, erzählt Simon, „denen hat er es jetzt gezeigt.“