Die Abstimmung über die Unabhängigkeit hat viel mit politischer Unzufriedenheit und weniger mit der Selbstvergewisserung eines Volkes zu tun. Doch um die nationale Frage kommen die Separatisten nicht herum, analysiert unser Spanien-Korrespondent Martin Dahms.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Barcelona - Diesem Sonntag haben viele Katalanen lange entgegengefiebert. Endlich konnten sie einen Stimmzettel in eine Urne werfen, um Ja zur Unabhängigkeit und zur Loslösung von Spanien zu sagen. Bei der inoffiziellen Volksbefragung hat eine große Mehrheit sich für die Unabhängigkeit der nordostspanischen Region ausgesprochen. Wie die katalanische Vizeregierungschefin Joana Ortega bekanntgab, hatten bei der unverbindlichen Befragung etwa 2,25 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben. Die Zahl der stimmberechtigten Katalanen gab die Regionalregierung mit 5,4 Millionen an.

 

Bei der vom spanischen Verfassungsgericht untersagten Befragung votierten nach einer vorläufigen Auszählung 80,1 Prozent der Teilnehmer dafür, dass Katalonien einen eigenen Staat bilden und sich von Spanien abspalten sollte. 10,1 Prozent sprachen sich für die Bildung eines katalanischen Staates aus, der aber weiterhin zu Spanien gehören sollte. 4,6 Prozent votierten gegen die Unabhängigkeit. Die Abstimmung war eine machtvolle Demonstration eines weit verbreiteten Unbehagens. Dieses Land, Spanien, gefällt uns nicht mehr, so wie es ist.

„Wir sind das Volk“

Dass diese Abstimmung ausgerechnet für den 25. Jahrestag des Mauerfalls angesetzt worden war, soll keine Absicht gewesen sein, aber doch eine glückliche Koinzidenz, sagen die Veranstalter. Im deutschen wie in ihrem Fall sei es schließlich um die Freiheit gegangen. Mit dem damaligen Ruf der Ostdeutschen – „Wir sind das Volk“ – können sich die heutigen katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter gut identifizieren. In der sich auflösenden DDR hieß es aber bald: Wir sind ein Volk. Während die Katalanen die Spanier immer wieder an das Gegenteil erinnern: Wir sind zwei Völker! Statt eine Mauer einzureißen, soll eine neue Grenze errichtet werden. Dieser Aspekt: dass die Unabhängigkeit nur über eine Abtrennung (von Spanien) zu haben ist, wird von ihren Betreibern gern in den Hintergrund geschoben. Sie nennen sich „Independentisten“, nicht Separatisten. Sie wollen zu Spanien ein gutes Verhältnis bewahren. Sie wollen keine Grenzpfähle einschlagen. Sie wollen weiter mit dem Euro bezahlen und, wenn man sie lässt, Mitglied der EU bleiben. Eigentlich soll alles so bleiben, wie es ist. Nur dass ihnen niemand mehr aus der Hauptstadt Madrid in ihre Angelegenheiten reinredet.

Es ist in den vergangenen Jahren zum Allgemeinplatz geworden, den allerorten erstarkenden Nationalismus als Antwort auf die (gern als ungebremst beschriebene) Globalisierung zu interpretieren. Der Einbruch des Rests der Welt in die eigene kleine Welt löse eine Sehnsucht nach identitärer Selbstvergewisserung aus, und die sei am besten im Rückzugsraum einer Nation zu haben. Weil es kein Copyright darauf gibt, was eine Nation denn eigentlich ist, sprießen immer mehr von ihnen aus dem Boden. Ganz so neu ist diese Entwicklung allerdings nicht. Rosa Luxemburg bemerkte schon vor rund 100 Jahren, dass überall „Nationen und Natiönchen“ ihr Recht auf Staatenbildung anmeldeten. Sie war von der Entwicklung nicht beglückt. Ihr selbst lag nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen am Herzen, sondern das „Selbstbestimmungsrecht der arbeitenden Klasse“.

Der Ruf nach Unabhängigkeit

Dass der Ruf nach Unabhängigkeit in Katalonien in jüngster Zeit so laut geworden ist, hat wahrscheinlich weit mehr mit dieser arbeitenden Klasse als mit identitären Sehnsüchten zu tun. Ein großer Teil derer, die heute für eine Loslösung von Spanien eintreten, definiert sich nicht als nationalistisch, sondern allein als „independentistisch“. Die historische und kulturelle Verzahnung Kataloniens mit dem Rest Spanien ist so eng, dass eine katalanische Nation, ein katalanisches Volk oder gar eine katalanische Ethnie nur schwer zu definieren wären. Einziges klares Unterscheidungsmerkmal ist die Sprache. In Katalonien wird neben Spanisch auch Katalanisch gesprochen – ebenso wie in der südlichen Nachbarregion Valencia und auf den Balearen, die sich deswegen aber noch lange nicht einer katalanischen Nation angehörig fühlen. Trotz der nicht ganz einfach zu beantwortenden Frage, was eigentlich die katalanische Identität ausmache, gibt es den katalanischen, identitären Nationalismus. Doch wichtiger für das jüngste Anschwellen der separatistischen Bewegung ist die weit verbreitete Unzufriedenheit über die aktuelle spanische Politik – eine Politik, die das Land nicht aus der Krise geführt bekommt, eine Politik zu Lasten der kleinen Leute – der arbeitenden Klasse –, eine korruptionstolerante Politik.

Ein von Spanien unabhängiges Katalonien soll ganz anders regiert werden: gerechter, sauberer, erfolgreicher. Warum aber sollte Katalonien die Dinge allein besser in den Griff bekommen als als Teil Spaniens? So sehr sich viele (vor allem linke) Separatisten dagegen wehren, als romantische, von der Globalisierung verängstigte Rückzugsnationalisten verdächtigt zu werden, so wenig kommen sie um die Identitätsfrage herum. Wer ein „Wir“ (Katalanen) gegen die „Anderen“ (Spanier) konstruiert, ist unweigerlich Nationalist, auch wenn er es selbst nicht wahrhaben will und behauptet, doch eigentlich nur für die Interessen der arbeitenden Klasse zu kämpfen. Das könnte er, wenn er wollte, natürlich auch im Rahmen eines einigen Spaniens. Nur ein Nationalist beschränkt den Kampf für ein besseres Morgen auf seine eigene, kleine Gemeinschaft.