Katarina Barley (SPD), einst Bundesministerin und heute stellvertretende Europaparlamentspräsidentin, kritisiert den Gipfelbeschluss der Regierungschefs – zum Beispiel wegen des gekürzten EU-Förderprogramms für junge Leute.

Berlin. Im Gespräch mit unserer Zeitung kritisiert Katarina Barley (SPD), einst Bundesministerin und heute stellvertretende Europaparlamentspräsidentin, den Gipfelbeschluss der Regierungschefs – zum Beispiel wegen des gekürzten EU-Förderprogramms für junge Leute. Vom Gedanken „Next Generation EU“, wie der Krisenfonds betitelt wurde, bleibe auf diese Weise nicht viel übrig, sagt Barley. -

 

Berlin – Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf ein großes EU-Finanzpaket verständigt. Nun ist aber noch das Europaparlament am Zug, das der Vereinbarung zustimmen muss. Katarina Barley (SPD), die stellvertretende Parlamentsvorsitzende, sieht jedoch noch großen Änderungsbedarf. -

Frau Barley, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat von einem historischen Tag für die EU gesprochen. Wird das Europaparlament diesem Deal zustimmen?

Diese Frage wird Gegenstand von Verhandlungen in den nächsten Tagen sein. Der Gipfelbeschluss ist ein reiner Ausgleich von nationalen Interessen, aber Europa muss mehr sein als die Summe nationaler Interessen. Für mich ist klar, dass es Änderungen geben muss und das Parlament mehr Europa im endgültigen Gesetzestext verankern muss.

Wo kommt der europäische Gedanke zu kurz?

Besonders krass zu sehen ist es, wo gegenüber dem Kommissionsvorschlag gekürzt wurde – bei Bildung, Forschung, Klimaschutz, Digitalisierung oder Migration. Jeder Staats- und Regierungschef hat versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, weshalb die EU-Programme, mit denen man zuhause leicht punkten kann, weiter gut ausgestattet sind – vor allem die Agrarbeihilfen und die Regionalförderung. Stattdessen wurde bei Töpfen der Rotstift angesetzt, die die europäische Idee stärken sollen, mit denen man aber nicht so leicht hausieren gehen kann. Als ehemalige Ministerin für Familie und Jugend bedauere ich vor allem die unglaublichen Einschnitte beim Erasmus-Austauschprogramm für Schüler, Studenten und Azubis. Gerade vom Gedanken „Next Generation EU“, wie der Krisenfonds ja betitelt wurde, bleibt auf diese Weise nicht viel übrig.

Als Ex-Justizministerin haben Sie sich auch für eine Rechtsstaatsklausel eingesetzt, die nicht zuletzt mit Blick auf Polen und Ungarn EU-Zahlungen an die Einhaltung demokratischer Standards knüpft. Wie bewerten Sie das nun Vereinbarte?

Dass sich Viktor Orban bereits dafür feiern lässt, sagt eine Menge aus. Das liegt zum einen an den umgedrehten Ratsmehrheiten: Die Kommission wollte, dass sie bei Rechtsstaatsverstößen finanzielle Sanktionen gegen ein Land verhängen kann, es sei denn, eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten – also 55 Prozent der Staaten, die 65 Prozent der EU Bevölkerung repräsentieren – widerspricht dem ausdrücklich. Nun sollen die Staaten den Sanktionen mit qualifizierter Mehrheit erst aktiv zustimmen müssen. Das ist eine deutlich höhere Hürde und keine sachgerechte Lösung, weil die EU-Kommission die Hüterin der Verträge ist. Darüber hinaus bleiben die meisten Aussagen zum Thema Rechtsstaat vage – und es ist völlig unklar, ob dazu noch klare Regeln vereinbart werden können. Orban hat auf Zeit gespielt und ist damit durchgekommen.

Kanzlerin Angela Merkel hat sinngemäß erklärt, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme das wichtigste Verhandlungsziel war, dem andere Dinge geopfert wurden. Nachvollziehbar?

Für mich ist das genau falsch herum gedacht. Da liegt jetzt so viel Geld auf dem Tisch, dass das genau der richtige Zeitpunkt ist, um Dinge zu vereinbaren, die sonst kaum verhandelbar sind. Ideal wäre gewesen, wenn die Bedingungen schon Teil der deutsch-französischen Initiative im Mai gewesen wären. Die Regierungen in Polen und Ungarn wollen schließlich auch mehr Geld. Man kann die europäischen Werte nicht mit Füßen treten und dafür auch noch belohnt werden wollen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass das Parlament noch Änderungen erreichen kann? Der Druck aus den Hauptstädten, die mühsam erreichte Einigung zwischen den Staats- und Regierungschefs nicht neu aufzumachen, dürfte groß sein.

Das stimmt. Die Regierungen üben bereits großen Druck auf die Abgeordneten aus ihren Ländern aus. Das wird wahrscheinlich auch in der Öffentlichkeit der Fall sein, weil immer so ein Bild erzeugt wird, als ob nach den Gesprächen der Regierungschefs nichts mehr komme. Aber es gibt mit Kommission und Parlament eben noch zwei weitere EU-Institutionen. Sie sollen ausdrücklich einen gesamteuropäischen Blick haben – und mit dem gehen wir jetzt in die Verhandlungen. Ich bin überzeugt, dass wir wichtige Nachbesserungen erreichen werden.