Um 14.46 Uhr Ortszeit bricht das Unglück über Japan herein. Und der Horror kommt doppelt - dem Beben folgt ein Tsunami.

Tokio - Binnen Sekunden verändert sich die Welt. Eben noch ist Makoto Sato mit seiner schwangeren Frau ruhig durch den Bahnhof Shinagawa in Tokio gegangen. Auf einmal fängt das Gebäude anzu wackeln, es kracht, tosender Lärm, Schreie, der Boden bewegt sich unter den Füßen. Man kennt sich aus mit Erdbeben, aber jetzt ist es anders. Man spürt es. Angst breitet sich binnen Sekunden in Japan aus, Todesangst, ein Tsunami der Furcht. Es ist 14.45 Uhr Ortszeit, als die Katastrophe über die Nation hereinbricht. Die nächste, die, vor der man sich seit dem Beben 1995 gefürchtet hat und von der man hoffte, dass sie einen verschonen werde. Um 14.45 Uhr ist sie da. "Wir haben uns alle hingehockt und voller Angst geguckt, ob die Decke einstürzt", sagte Makoto Sato. "Wir hatten Todesangst." Wie das ganze Volk.

 

Man kann in diesem Moment in Tokio nur erahnen, wie sich die Menschen im eigentlichen Zentrum des Erdbebens 350 Kilometer nördlich gefühlt haben müssen. Wirklich vorstellen kann man es sich wohl nicht. Die Präfekturen Iwate und Miyaki sind vom fünftstärksten Beben der Geschichte seit 1900 getroffen worden. Doch das ist nur eine Statistik, eine Zahl, die fürchterlichen Bilder aus der Region sind echt. Es sind Motive wie aus einem Katastrophenfilm, aber das hier ist schreckliche Realität. Häuser sind kollabiert, Erdrutsche blockieren die Straßen. Notquartiere sind eingerichtet worden. Bei dem Atomkraftwerk in Fukushima ist in einem Meiler die Kühlung ausgefallen. Der Zugverkehr ist eingestellt. Die Handynetze sind zusammengebrochen.

Der Horror kommt doppelt

Besonders hart betroffen ist die an der Küste gelegene Millionenstadt Sendai, die dem Epizentrum am nächsten gelegen war und verwüstet ist. Schon kurz nach dem Seebeben bricht der Tsunami über die Stadt. Man hört Berichte, dass sich viele Fischer und Hafenarbeiter direkt am Wasser befunden hätten. Hunderte Brände sind ausgebrochen, ein Hotel ist eingestürzt. Ähnliche Großunglücksstellen werden entlang der gesamten Küste gemeldet. In Miyagi wird ein Personenzug vermisst, der womöglich von der Flutwelle fortgerissen wurde. Mindestens ein Schiff mit mehr als 100 Menschen gilt als verschollen.

Der Horror kommt doppelt. Erst die Beben, dann das Wasser. Die höchste Wasserwalze ist mehr als zehn Meter hoch, als sie auf die Küste trifft. Sie frisst sich ins Landesinnere und hinterlässt eine Schneise der Verwüstung. Die Welle schiebt Boote, Container und Autos kilometerweit aufs Land und reißt auf ihrem Weg ganze Dörfer weg, dann mit dem Rückfluss mit ins Meer. Man sieht Bilder von Autofahrern, die auf der Straße panisch wenden und flüchten wollen. Wie viele es geschafft haben, ist unklar. Stündlich steigt die Zahl der Opfer. Von fünf Toten wurde in den ersten Meldungen noch gesprochen. Mit jeder Minute, in der das Ausmaß des Unglücks klarer wird, schnellen die Zahlen nach oben. Mehrere Hundert sind es, mindestens.

Nachbeben im Zehnminutentakt

In Japan geht an diesem Nachmittag die Angst um, dass der Schrecken noch nicht vorbei ist. Im Zehnminutentakt wird die Gegend von Nachbeben erschüttert, die selbst Hochhäuser in Tokio zum Schwanken bringen. Nach dem ersten Beben strömen die Menschen in der Metropole auf die Straße. Minutenlang fühlt sich der Boden wie Wackelpudding an. Die Stöße sind so heftig, dass man das Schwingen der Wolkenkratzer mit bloßem Auge erkennen kann. Die Handynetze brechen für Stunden zusammen. Die Züge stoppen. Zigtausende Haushalte sind ohne Strom. Fahrstühle stecken fest. In Treppenhäusern rieselt Farbe und Mörtel herab. Im Presseclub der Auslandskorrespondenten (FCCJ) reißt es Regale aus der Wand. Menschen fallen einfach um. "Die Stühle rutschten hin und her", sagt ein Kollege später. "Das war das stärkste Beben, das ich je erlebt habe", sagt der 65-jährige Geschäftsführer des FCCJ, Akira Nakamura. Am Horizont geht die Raffinerie der Gesellschaft Cosmo in Flammen auf. Apokalyptische Bilder.

Seite 2: Die Menschen reagieren relativ gelassen

Japan ist routiniert im Umgang mit Beben. Es ist das erdbebenreichste Land der Welt, da unter den Inseln mehrere Erdplatten zusammenstoßen. Täglich wackelt es irgendwo im Land. Rund 40 aktive Vulkane verstärken das Bedrohungsgefühl. Die Häuser sind daher so erdbebensicher wie nirgend sonst auf der Welt, was eine noch größere Katastrophe verhindert hat. Der denkmalgeschützte Tokioter Bahnhof ist auf seiner gesamten Länge von mehr als 300 Metern nachträglich auf Puffer aus Stahl und Gummi gestellt worden, um auch Beben der Stärke 8 schadlos zu überstehen. Eine technische Meisterleistung.

Notfallzentren füllten sich schnell

Die Menschen in Tokio reagieren daher schon nach dem ersten Schrecken mit relativer Gelassenheit. Es gibt einen Masterplan für Fälle wie diesen. Zigmal geübt, von Kindesbeinen an. Sie spulen das einstudierte Schutzprogramm ab. Schutz suchen. Abwarten. In Sicherheit bringen. Die Regierung hat innerhalb von Minuten einen Krisenstab eingerichtet. Der Gouverneur der Präfektur Miyagi forderte die Hilfe der Selbstverteidigungsstreitkräfte ein. Evakuierungsmaßnahmen liefen, heißt es, sehr geordnet ab. Schnell füllten sich die Notfallzentren. Die Menschen sind realistisch: "Gegen Erdbeben kann man nichts machen, sondern nur hoffen, nicht da zu sein, wenn es kommt", sagt eine Frau in Tokio. Die Zahl der Toten dürfte daher nicht wie in anderen Ländern bei einer derartigen Katastrophe in die Zehntausende steigen.

Eines ist der Nation an diesem Tag der Trauer dennoch bewusst geworden. Das Land hat Glück im Unglück gehabt, auch wenn es einem schwerfällt, dies so zu sehen an einem Tag, an dem in allen Fernsehern in Japan Bilder aus dem Norden des Landes laufen und Entsetzen auslösen.

Nicht auszudenken aber, wenn dieses Beben den Großraum Tokio mit seinen 36 Millionen Einwohnern getroffen hätte. 1923 starben beim Großen Kanto-Erdbeben mehr als 100000 Menschen. Ein anderes Beben der Stärke 7,3 auf der Richterskala in der Region um die Stadt Kobe im Jahr 1995 kostete mehr als 6000 Leben. Ein ähnlich starkes Beben wie damals in Kobe unter Tokio würde nach dem offiziellen amtlichen Horrorszenario mindestens 11.000 Tote fordern. Und es würde einen Schaden in Höhe eines Fünftels des Bruttoinlandsprodukts Japans verursachen.

Wieder Alltag in Tokio

Ein Beben der Stärke 8 oder gar wie das gestrige mit 8,9, das auch Tokio treffen könnte, haben die Planer gar nicht erst durchgerechnet. Offiziell lautet die Begründung, dass solche Beben in Tokio nur alle 200 bis 300 Jahre vorkommen würden. Und das letzte ist ja erst 90 Jahre her, so dass es keinen Bedarf gebe, solch eine Szenario durchzuspielen. Inoffiziell will man die Menschen nicht zu sehr verunsichern, wie ein Erdbebenberater verrät. Es würde psychologisch keinen Sinn haben, so die Meinung des Experten, ein unbeherrschbares Szenario mit womöglich Hunderttausenden Toten zu simulieren. Die Sorge ist, dass angesichts einer vermeintlichen Ausweglosigkeit niemand mehr Vorsorge trifft.

Doch für heute hat in Tokio der Alltag wieder begonnen. Seit 20.50 Uhr fahren die ersten Bahnen wieder. Die Bewohner bauen umgestürzte Regale wieder auf und fegen die Scherben zusammen. Manches wird man aber erst am nächsten Tag sehen, wenn das Ausmaß sichtbar wird.