In seinem ersten Jahr hat Franziskus die katholische Kirche durcheinander gewirbelt und das Papsttum auf eine neue Grundlage gestellt: sich selbst. Doch wohin dieses Selbstverständnis die Kirche und den Papst führen wird, ist noch unklar.
Rom - Brüder und Schwestern, guten Morgen!” Die Stimme ist belegt wie immer, schwach im Ton, aber dank der riesigen Lautsprecher füllt sie das ganze Oval des Petersplatzes. An den kolossalen Palazzi draußen bricht sich das „buon giorno!“ und kehrt als vielfaches Echo zurück. Es ist März, eine durchaus noch garstige Jahreszeit, in der sich frühere Päpste in eine vatikanische Halle zurückgezogen haben für ihre wöchentliche Generalaudienz. Aber dort passen höchstens zwölftausend Besucher hinein. Kein Format für Papst Franziskus. Zu ihm drängen jeden Mittwoch dreißig-, vierzigtausend Leute; jeden Sonntag kommen zum Mittagsgebet noch einmal so viele, und die Touristensaison hat in Rom noch gar nicht richtig angefangen.
„Brüder und Schwestern, guten Abend.“ Mit diesem von keiner kirchlichen Liturgie vorgesehenen Gruß hat sich der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio vor einem Jahr als neuer Papst vorgestellt. Und während heute schon nach einem Satz derart gemeinmenschlicher Höflichkeit der Applaus über den Platz tost, wussten die hundertfünfzig- oder hundertachtzigtausend an jenem verregneten 13. März zunächst nicht, was sie mit diesem Menschen anfangen sollten: Da stand er weit oben auf dem Balkon des Petersdoms, irgendwie weiß, aber seltsam unfeierlich gekleidet, linkisch in Haltung und Worten. Erst als Franziskus – „von den Brüdern Kardinälen zum Bischof von Rom gewählt“ – sich vor dem Volk so weit nach vorne beugte, dass es aussah, als würde er über die Brüstung stürzen; als er die Gläubigen um den Gefallen ersuchte, zuerst ihn zu segnen, als er damit die gemeinkirchlichen Verhältnisse umkehrte, da, in dieser unfassbaren Gebetsstille, begann es auf dem Petersplatz zu knistern. In diesem Moment war Franziskus beim Volk angekommen und alles Volk, weltweit, bei ihm.
Graffiti und Zeitungsphantastereien
Heute, lange zwölf Monate später, beginnt sich Franziskus’ Image zu differenzieren. Da sind die Massen auf dem Platz, da sind die 11,5 Millionen Twitter-Kunden, die begeistert auf Franziskus abonniert sind. Da sind die Schlagzeilen, wenn der Papst spontan irgendwelche in Not geratenen Leute anruft, von deren Schicksal er aus der Zeitung erfahren hat. Und da ist der Vatikanprälat, der am Rande der Generalaudienz auf die Uhr schaut und dann spitz bemerkt, Franziskus habe sich im offenen Wagen viermal so lange durch die Menge fahren und feiern lassen als nachher seine Predigt gedauert habe. „Dabei sollte er doch der Lehrer der Kirche sein, kein Showstar.” Und überhaupt: „Bei Benedikt sind die Leute theologisch gut genährt nach Hause gegangen; der hier gibt aber doch sehr den Dorfpfarrer.“
Ein zuvor recht kirchenferner Graffiti-Künstler hat den „Superman Franziskus“ in stürmischem Flug durch die Welt an eine römische Hauswand gesprüht, und voller Begeisterung, voller tagtäglich eingestandener Erleichterung auch darüber, dass (erst) seit diesem Papst kein Mensch mehr auf dieser Kirche herumhackt, haben die vatikanischen Medienleute das Bild sofort im Internet verbreitet. Selbst Bischöfe haben die Bildung von Franziskus-Legenden gefördert und Zeitungsphantastereien laufen lassen, weil’s grad so schön war: Im Schutze der Nacht, hieß es da zum Beispiel, streife Franziskus inkognito um den Vatikan, um Essen an die dort schlafenden Penner zu verteilen. Das passte ja auch so gut in das Bild eines Papstes, der nicht nur „eine arme Kirche für die Armen” will, sondern an seinem 77. Geburtstag drei Stadtstreicher zum gemeinsamen Frühstück eingeladen und seinen Almosenmeister mit den Worten losgeschickt hat: „Ich will, dass dein Geldbeutel immer leer ist, wenn du zurückkommst.“
„Der Papst ist eine normale Person“ – sagt Franziskus
„Der Papst ist eine normale Person“ – sagt Franziskus
Mittlerweile ist der Hauptperson dieses Spiel aber zu dumm geworden. „Das gefällt mir nicht. Diese ideologischen Deutungen, diese Papst-Franziskus-Mythologie . . .“ Nachts zu den Clochards zu gehen, sagt Franziskus in seinem jüngsten und erstmals auffallend präzise formulierten Interview weiter, sei ihm „nie in den Sinn gekommen.“ Und so barsch, wie man ihn noch nie gehört hat, weist er „jede Idealisierung, jede Darstellung als Supermann oder als Star“ als „aggressiv und beleidigend“ zurück. „Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle anderen. Eine normale Person.“
Das Oberhaupt dieser Kirche, dieser 1,2 Milliarden Katholiken in der ganzen Welt, eine normale Person? Damit ist Franziskus noch nicht einmal bei seinen Kardinälen durchgekommen – „und daraus können Sie sehen“, sagt einer der 19 neuen vom Februar, „wie gewaltig der Unterschied zu vorher ist“. Gestandene Männer wie der Mainzer Karl Lehmann erzählen mit leuchtenden Augen, wie Franziskus, obwohl er einen eigenen Aufzug hätte, mit allen anderen gemeinsam nach oben fährt: „Ist bei Euch noch Platz für mich?“ Andere beglückt es, wie ein Papst sich vor der Garderobe genauso in die Schlange stellt wie sie selbst es tun, oder wie er bei der Kardinals-Generalversammlung im Februar nicht als letzter den Saal betrat, so dass alle in Ehrfurcht aufzustehen hatten, sondern wie er sich von Anfang an unter die fröhlich plaudernde Menge mischte. Und doch, gab der Washingtoner Kardinal Donald Wuerl zu Protokoll, bestünde kein Zweifel daran, wer der Chef sei: „He’s still the rock. Er ist immer noch der Fels.”
Wohin führt der neue Stil im Vatikan?
Antonio Spadaro, Jesuit wie Bergoglio und Schriftleiter der vatikan-halbamtlichen Zeitschrift „La Civiltà Cattolica”, nennt diesen Papst „ein Paradox der Kommunikation: Je niedriger sein Podest ist, umso mehr Autorität klingt in seiner Botschaft wider.“ Da sei, sagt Spadaro eine „verblüffende Einheit von Gesten und Worten“ und eine „Unmittelbarkeit“ gegenüber dem Publikum, „die jede Distanz verschwinden lässt.“ Da ist plötzlich Körperlichkeit – gegenüber dem nach außen so kühlen Vatikan Benedikt’scher Prägung. Da ist Anfassen, Umarmen: „Ich brauche das“, sagt Franziskus. Da ist nicht mehr, sagen sie in Rom, ein Papst wie Benedikt, der sich dem Amt und der Tradition unterordnet, sondern da ist das Amt Person geworden, die Person Botschaft.
Aber wohin führt das alles? Die starken Gesten? Die ersten Worte – zum Beispiel jene im Flugzeug zurück vom brasilianischen Weltjugendtag nach Rom, wo Franziskus auf Journalistenfragen unter anderem gesagt hat: „Wer bin ich, dass ich über einen Homosexuellen urteile?“ Sätze wie diese haben Schlagzeilen von einer „Änderung der katholischen Morallehre“ hervorgerufen und den Papst – wie es die Katholischen Nachrichtenagentur diagnostiziert – zu einer „allzu großen Projektionsfläche für lange gehegte Wünsche nach liberalem Wandel und weltlicher Logik“ gemacht.
Angstfreies Reden über Themen, die vorher tabu waren
Starke Worte, starke Gesten
Nach so mancher ungeschützter Äußerung seiner ersten Monate muss sich Franziskus auf die Zunge gebissen haben. „Er spürt“, so notiert Spadaro aus seinem langen Gespräch mit dem Papst, „dass ihm die richtigen Antworten erst kommen, nachdem er die erste Antwort gegeben hat.“ Wörtlich sagt Franziskus da: „Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt, als ich auf dem Rückflug von Rio de Janeiro den Journalisten antwortete“. Doch da waren die Sensationsmeldungen nicht mehr einzufangen.
Ein Monsignore vom Reformflügel der römischen Kurie, der von der Wahl Bergoglios begeistert war, sagt heute: „Ich weiß noch nicht, ob es der Papst ist, auf den wir gewartet haben. Er hat ja nicht mal richtig angefangen.“ Wie das – nach all den Kommissionen, die Franziskus eingesetzt hat, nach der Reform der Vatikanbank, nach den starken Akzenten in der Ehe- und Familienmoral? „Ja ja,“ sagt der Monsignore: „Viele starke Worte, viele starke Gesten. Aber ob er bei den vielen Baustellen, die er aufgemacht hat, noch den Überblick behält?“
Die schiere Dynamik, die Franziskus vom ersten Amtstag entfesselt hat, ist bei allen in Rom, die man nach den ersten zwölf Monaten fragt, das beherrschende Thema. Bischöfe, die von außen in diese neue Welt kommen, rühmen die „unerhörte Offenheit zum angstfreien Reden auch über Themen, die vorher tabu waren“. Es häufen sich aber auch die bitteren Briefe von Priestern, die sich gekränkt fühlen, wenn Franziskus die „Weltlichkeit des Klerus“ verdammt oder dessen „fehlende Barmherzigkeit“ anklagt.
Nie hat man einen Papst gesehen, der so oft auf die Uhr schaut
Erstmals sah Franziskus sich diesen Aschermittwoch zur Klarstellung gezwungen: „Sie sagen mir, ich hätte was gegen die Priester. Nein, ich prügle sie hier nicht.“ Im Augenblick, sagt der Papst, komme ihm die Kirche eben vor wie ein Feldlazarett nach der Schlacht: „Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.“ Und dann direkt an die Priester vor ihm: „Seid ihr den Menschen wirklich so nahe, dass ihr auch ihre verborgenen Wunden kennt? Ich frag‘ ja nur.“
Am 13. März vor einem Jahr hat sich Franziskus als einer vorgestellt, den die Kardinäle „vom Ende der Welt geholt“ hätten. Seither drängt er von der Zentrale aus die Kirche an die Enden, „an die räumlichen und geistigen Peripherien“. Von dort aus – und noch vor allen Reformen – soll diese Kirche einen neuen Blick auf sich selbst, auf Welt und Mensch gewinnen. Aber wo sind dabei die Grenzen für die Kirche? Wie soll sie das wissen, fragt Franziskus ungeduldig zurück, wenn sie noch nicht einmal ordentlich in Bewegung geraten ist? Und nie hat man einen Papst gesehen, der so häufig auf die Uhr geschaut hätte wie Franziskus.
Hinaus also. Wieder einmal lebt Papst Franziskus es dieser Tage vor: Statt irgendwelche Feiern zu einem ersten Amtsjubiläum über sich ergehen zu lassen, nimmt er seine Kurienprälaten mit: fünf Tage Einsamkeit. Albaner Berge. Fastenexerzitien. Meditationen über Buße und Umkehr – weg von den allzu gewohnten Schreibtischen, zum allerersten Mal.