Der deutsche Kurienkardinal Walter Brandmüller kritisiert, wie die Gesellschaft mit dem Thema sexueller Missbrauch durch Priester umgeht. Er sieht in der Empörung darüber eine Heuchelei und versucht den Missbrauchskandal zu relativieren.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Rom - Die Empörung über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ist aus Sicht des deutschen Kardinals Walter Brandmüller Heuchelei. „Da benimmt sich die Gesellschaft ziemlich heuchlerisch“, sagte Brandmüller kurz vor seinem 90. Geburtstag an diesem Samstag (5. Januar). „Was in der Kirche an Missbrauch passiert ist, ist nichts anderes, als was in der Gesellschaft überhaupt geschieht.“

 

Sexueller Missbrauch sei alles andere als ein spezifisch katholisches Phänomen. Der eigentliche Skandal sei, dass sich die Kirchenvertreter in diesem Punkt nicht von der gesamten Gesellschaft unterschieden.

„Nicht weniger wirklichkeitsfremd ist es, zu vergessen beziehungsweise zu verschweigen, dass 80 Prozent der Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld männliche Jugendliche, nicht Kinder, betrafen“, kritisierte Brandmüller. Es sei zudem „statistisch erwiesen“, dass es einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität gebe.

Problematische Strukturen in der katholischen Kirche

Eine im vergangenen Jahr vorgestellte Studie hatte ergeben, dass in Deutschland zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1670 katholische Kleriker 3677 meist männliche Minderjährige sexuell missbraucht haben sollen. Zudem hatten die mit der Studie beauftragten Wissenschaftler problematische Strukturen in der katholischen Kirche benannt, die Missbrauch nach wie vor befördern könnten – etwa die umstrittene Verpflichtung der Priester zur Ehelosigkeit (Zölibat) und die ausgeprägte klerikale Macht einzelner Geistlicher.

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, hatte darauf hingewiesen, dass der Zölibat und Homosexualität „für sich genommen“ keinen Missbrauch hervorriefen.

Brandmüller gilt als einer der konservativsten Vertreter im Kardinalskollegium. Ende 2016 hatte er zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Kölner Kardinal Joachim Meisner sowie dem Kurienkardinal Raymond L. Burke und dem emeritierten Erzbischof von Bologna, Kardinal Carlo Caffarra, einen Brandbrief an Papst Franziskus geschrieben. In diesem forderten sie vom Papst Aufklärung über dessen Schreiben über Familie und Liebe, „Amoris Laetitia“. Franziskus antwortete nicht – zumindest nicht in der Öffentlichkeit.