Nicht nur die Untersuchung im Krankheitsfall ist wichtig. Ein Kinderarzt sollte das Kind und seine Entwicklung über längere Zeit beobachten und begleiten. Foto: Imago Images/Westend61
Eine Familie, die neu in Stuttgart ist, findet keinen Kinderarzt. Die Mutter ist verzweifelt, sie hat bereits dutzende Praxen kontaktiert, doch niemand kann ihr helfen.
Es ist ihr Herzenswunsch gewesen, zurückzukehren in ihre Geburtsstadt Stuttgart. Doch mittlerweile bereut eine junge Mutter diese Entscheidung. Denn in Stuttgart sei es für Familien so unendlich schwer. „Eigentlich sollte die Stadt eine Warnung veröffentlichen, dass Familien nicht hierher ziehen sollten“, so ihr trauriges Fazit.
Die junge Frau ist im Dezember mit ihrem Mann und ihrem Kind von Berlin nach Untertürkheim gezogen. Es sei schon kompliziert gewesen, für ihre zweijährige Tochter einen Kita-Platz zu finden. Doch einen Kinderarzt zu bekommen, sei schlicht aussichtslos. Noch von Berlin aus habe sie die ersten Praxen kontaktiert – ohne Erfolg. „Davon wollten wir uns aber nicht abschrecken lassen. Wir dachten, es wird sich schon jemand finden, wenn wir erst einmal da sind“, sagt sie.
Doch das war ein Irrtum. Als ihre Tochter kurz nach der Ankunft in Stuttgart eine Grippe mit hohem Fieber bekam, rief die Mutter in dutzenden Praxen in der gesamten Region an. Doch nirgendwo bekam sie einen Termin, immer wieder wurde sie auf die Notaufnahme verwiesen. Sie sei verzweifelt und tränenüberströmt gewesen. Ein krankes Kind und keinen Arzt zu haben, das sei ein schreckliches Gefühl, erzählt die junge Frau. Am zweiten Tag habe sich dann eine Praxis erbarmt – aber nur ausnahmsweise aufgrund der Notsituation, nicht, um ihr Kind offiziell in die Kartei aufzunehmen.
„Die Stadt Stuttgart sollte eine Warnung aussprechen“
Seitdem hat die Familie nichts unversucht gelassen. Doch der Kinderarzt im Stadtteil verweigere die Aufnahme, weil er völlig überfüllt sei, er verweise immer wieder auf die Notaufnahme. Praxen in anderen Stadtteilen weisen die Familie ab, weil sie nur Kinder aus dem eigenen Stadtteil aufnehmen – und dies sogar dann, wenn die Praxis noch freie Kapazitäten habe. „Ich habe Kinderärzte bis Fellbach und Stetten im Rems-Murr-Kreis angerufen. Ich bin absolut verzweifelt“, sagt die junge Mutter. Auch ihre Krankenkasse und die Kassenärztliche Vereinigung hätten ihr nicht weiterhelfen können.
Özgür Dogan ist einer der Sprecher der Kinderärzte in Stuttgart und weiß, wie viel seine Kolleginnen und Kollegen zu stemmen haben. Foto: Lichtgut/Kovalenko
„Die Situation ist verheerend, es gibt viele Einzelschicksale“, sagt Kristina Heyt, die Sprecherin der Kinderärzte in Stuttgart, und ergänzt: „Wir tun, was wir können, wir schaffen alle am Limit.“ So sieht das auch ihr Kollege Özgür Dogan. Er ist ebenfalls Sprecher der Stuttgarter Kinderärzte und sagt: „Wir haben im Kollegenkreis vereinbart, dass Familien mit Neugeborenen und neu zugezogene Familien aufgenommen werden sollten. Dennoch hören wir immer wieder mal, dass Eltern keinen Kinderarzt in zumutbarer Entfernung finden.“ Auch aus Sicht der Stadt Stuttgart ist die pädiatrische Versorgungslage Lage „prekär“, wie es in einer schriftlichen Stellungnahme heißt.
Die Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) belegen, dass die Versorgung in Stuttgart in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich schlechter geworden ist:
2015 kamen 50 Kassensitze auf 89 558 Kinder.
2025 sind es 51,25 Kassensitze auf 98 764 Kinder.
Hinzu komme, dass sich der Behandlungsaufwand deutlich erhöht habe, ergänzt der KVBW-Sprecher Kai Sonntag.
Die Zukunft sieht noch düsterer aus. In den vergangenen Monaten seien vier Kinderarztpraxen geschlossen worden, weil sich kein Nachfolger fand, schreibt die Stadt. In der Stellungnahme heißt es zudem: „Die Altersstruktur der pädiatrischen Ärzteschaft lässt erwarten, dass in naher Zukunft weitere Praxisabgaben bevorstehen. Von den derzeit 63 tätigen Kinderärztinnen und Kinderärzten sind 21 bereits 60 Jahre alt oder älter (33,3 Prozent).“ Daraus ergebe sich ein dringender Handlungsbedarf.
Warum es zu wenige Kinderärzte in Stuttgart gibt
Doch es finden sich keine Interessenten für die offenen Arztsitze. Kai Sonntag räumt ein, dass die KVBW nicht das Instrumentarium habe, um sicherzustellen, dass alle Familien in Stuttgart einen Kinderarzt in zumutbarer Entfernung finden. „Wir können ja nur mit den Ärzten arbeiten, die überhaupt verfügbar sind. Wir haben beispielsweise nicht die Möglichkeit, jemanden irgendwo hinzubeordern. Und wir haben ebenfalls keine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass mehr junge Ärztinnen und Ärzte sich dafür entscheiden, in die Kindermedizin zu gehen“, schreibt er.
Es gebe umfangreiche Förderprogramme, zum Beispiel auf dem Gebiet der Weiterbildung. Kai Sonntag erklärt: „Damit Ärzte in Praxen tätig sein dürfen, müssen sie nach ihrem Studium die Facharztweiterbildung durchlaufen, in diesem Fall also zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Hier besteht die Möglichkeit, einen Teil der Weiterbildung auch in einer Praxis und nicht im Krankenhaus zu absolvieren. Genau das fördern wir.“
Aber zu wenig, so die Meinung der Stadt Stuttgart: „Es müssen deutlich mehr Nachwuchsärztinnen und -ärzte ausgebildet werden. Besonders die pädiatrische Facharztausbildung sollte – analog zur Allgemeinmedizin – unbegrenzt gefördert werden“, heißt es in der Stellungnahme. Derzeit würden Ärztinnen und Ärzte, die sich für die pädiatrische Weiterbildung interessieren, häufig abgewiesen, da die geförderten ambulanten Ausbildungsplätze bereits ausgeschöpft seien. Und der obligatorische Ausbildungsteil in der Klinik werde überhaupt nicht gefördert.
Kai Sonntag bestätigt diese Darstellung, weist aber auch darauf hin, dass die KVBW die Förderrichtlinien nicht ändern könne, weil das eine bundespolitische Entscheidung sei. Und an der Zahl der Kinderärzte würde es ohnehin nichts ändern, sie würden sich nur anders auf Praxen und Kliniken verteilen.
Wie die Stadt dem Problem begegnet
Die Stadt Stuttgart hat bereits 2022 einen Runden Tisch einberufen, um der prekären pädiatrische Versorgungslage zu begegnen. Die Maßnahmen wurden in enger Abstimmung mit den Kinderärzten und dem Olgahospital entwickelt. Dazu zählen unter anderem:
Auslobung von Fördermitteln für die Erhöhung der pädiatrischen Kapazitäten
Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung
Einrichtung einer städtischen Anlauf- und Beratungsstelle für niederlassungswillige Ärzte und interessierte Bauherren
Berücksichtigung der haus- und kinderärztlichen Bedarfe bei der Stadtplanung und Unterstützung bei der Suche nach Liegenschaften
Der Familie aus der Bundeshauptstadt helfen diese Maßnahmen freilich nicht, sie braucht jetzt einen Kinderarzt. Aktuell kontaktiert sie ihre alte Praxis in Berlin, wenn sie zum Beispiel eine Krankschreibung braucht. Das Personal dort sei „zwar hilfsbereit, aber auch irritiert“, sagt die Mutter. Demnächst stehe wieder eine der obligatorischen U-Untersuchungen an. „Stand jetzt fahren wir dafür nach Berlin.“ Das koste viel Zeit und Geld. Doch jenseits des finanziellen und zeitlichen Aufwands geht es ihr vor allem darum, einen festen Ansprechpartner zu haben, der ihr Kind im Laufe der Jahre kennenlernt und so auch bestmöglich behandeln kann. Aber aktuell sehe es so aus, als müsste sie wohl selbst eine Patientenakte für ihren Nachwuchs anlegen, um diese dann zu immer wieder neuen Ärzten mitzunehmen.