Wegen der Ermordung von mehr als 500 Menschen im italienischen Sant Anna wird endgültig keine Anklage erhoben. Grund: der heute 94-jährige Kompaniechef ist dement. Die Überlebenden üben scharfe Kritik an der Stuttgarter Justiz, die die Ermittlungen verschleppt habe.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Das Nazi-Massaker im italienischen Bergdorf Sant Anna wird in Deutschland wohl endgültig nicht mehr in einem Strafprozess aufgearbeitet. Gut 71 Jahre nach der Tötung von mehr als 500 Zivilisten durch die Waffen-SS kämpfen die Überlebenden nicht länger darum, dass gegen den einstigen Kompaniechef Gerhard S. Anklage erhoben wird. Ihre Anwältin hat jetzt entschieden, die Einstellung der Ermittlungen gegen den 94-Jährigen durch die Staatsanwaltschaft Hamburg nicht mit einem sogenannten Klageerzwingungsantrag anzufechten. Damit ist das Verfahren gegen S., der wegen Demenz als dauerhaft verhandlungsunfähig gilt, aller Voraussicht nach für immer beendet; nur wenn völlig überraschend neue Tatsachen bekannt würden, könnte es theoretisch wieder aufleben.

 

Für die Opferinitiative um die Überlebenden Enrico Pieri und Enio Mancini sowie ihre Rechtsanwältin Gabriele Heinecke war es schon ein großer Erfolg, dass die Ermittlungen gegen S. wieder aufgenommen wurden. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte das Verfahren nach etwa zehn Jahren im Jahr 2012 eingestellt, was international auf Proteste und Unverständnis gestoßen war. Besondere Empörung hatte die Begründung des lange zuständigen, inzwischen pensionierten Oberstaatsanwaltes Bernhard Häußler ausgelöst: Das Massaker müsse nicht geplant gewesen sein, sondern könne sich auch spontan ergeben haben, argumentierte er sinngemäß in der 150-seitigen Einstellungsverfügung. Diese wurde später von der übergeordneten Generalstaatsanwaltschaft abgesegnet und auch von Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) verteidigt. Bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stoße das Recht leider an Grenzen, hieß es entschuldigend.

Karlsruher Richter beschämen Stuttgarter Justiz

Umso blamabler war es für die Ermittler und den Minister, als die Anwältin Heinecke mit einem Klageerzwingungsantrag beim Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe Erfolg hatte. Im Fall von Gerhard S., entschieden die Richter, seien die Ermittlungen voreilig eingestellt worden. Die Staatsanwaltschaft und die übergeordnete Behörde hätten einem möglichen Szenario, das S. entlastet hätte, „zu großes Gewicht beigemessen“. Wenig spreche für einen spontanen Ausbruch von Gewalt, viel für ein von vornherein geplantes Massaker an der Zivilbevölkerung. Eine Verurteilung des einstigen Kompanieführers sei daher wahrscheinlich, sofern er verhandlungsfähig sei. Zugleich veranlassten das OLG, dass das Verfahren von der – wegen des Wohnortes zuständigen – Staatsanwaltschaft Hamburg neu aufgenommen wurde.

In Hamburg machten sich die Ermittler mit Hochdruck an die Arbeit. Zwei Oberstaatsanwälte wurden eigens für das Verfahren freigestellt, das in Stuttgart jahrelang vor sich hin gedümpelt war. Im Mai dieses Jahres kamen sie zu dem Ergebnis, gegen S. bestehe „in hohem Maße der Verdacht …, in mindestens 342 Fällen gemeinschaftlich grausam und sonst aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben“. Über mehrere Seiten hinweg wurden in der Verfügung die Namen und Geburtsdaten dieser Opfer aufgelistet. Wegen dieses Verdachts, so ihr Fazit, müsste es eigentlich zur Anklage und zur Hauptverhandlung kommen. Es gebe allerdings ein „Verfahrenshindernis“, das dem entgegenstehe: nach Auskunft von Gutachtern sei S. – bei relativ gutem körperlichen Allgemeinzustand – dement und daher „dauerhaft verhandlungsunfähig“. Daher seien die Ermittlungen einzustellen gewesen.

„Kampf um Anklage hatte eigenen Sinn“

In einer Beschwerde an die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft zweifelte die Anwältin Heinecke zwar an diesem Befund. Dabei stütze sie sich auf Aussagen von Mitbewohnern aus der Seniorenwohnanlage. Die übergeordnete Behörde verwies jedoch auf die Kompetenz der Gutachter und deren sorgfältige Untersuchung des Beschuldigten. Ergebnis: es bleibe bei der Einstellung des Verfahrens. Dagegen hätte Heinecke mit einem Klageerzwingungsantrag an das hanseatische Oberlandesgericht vorgehen können. Wegen der geringen Erfolgsaussichten ließ sie die dafür gesetzte Frist jetzt aber verstreichen.

In einem Brief an die Überlebenden bedauert Heinecke diesen Ausgang. „Aber ich glaube, dass der Kampf um die Erhebung der Anklage in den letzten zehn Jahren einen eigenen Sinn gehabt hat“, schrieb sie weiter. Ihr Mandant Mancini bestärkte sie darin: Natürlich sei das Ende des juristischen Weges bitter, „aber wir fühlen uns nicht als Verlierer und auch Du… solltest Dich nicht so fühlen.“ Der wahre Verlierer sei die deutsche Justiz und vor allem die Staatsanwaltschaft in Stuttgart, die das Verfahren über zehn Jahre verschleppt und damit einen Prozess verhindert habe.

So sieht es auch die Anstifter-Initiative Sant Anna, die eng mit Heinecke zusammenarbeitete. Ihr Fazit: der „mangelnde Strafverfolgungswille“ von Häußler und seinen Vorgesetzten sei der Grund dafür, dass es nun zu keinem Prozess mehr komme. Angesichts dieses Versagens teile man mit den Opfern „ihre Gefühle der Enttäuschung und des ohnmächtigen Zorns“.