Die Aufarbeitung alter Pannen in Philippsburg fördert neue, noch schwerere Verstöße zu Tage. Atomexperten halten die Vorgänge für gravierend.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Das anonyme Schreiben las sich alarmierend. Im Kernkraftwerk Philippsburg, berichtete der offensichtlich sachkundige Verfasser, häuften sich die Pannen durch Fehler des Personals. Mal seien Zigtausende Liter Reaktorwasser aus dem Brennelementebecken geflossen, mal habe die Kühlung für Notfälle tagelang nicht zur Verfügung gestanden, mal sei der Sicherheitsbehälter bei laufendem Betrieb über Stunden hinweg geöffnet gewesen. Entgegen den Vorschriften sei keines der drei Ereignisse gemeldet worden. Die Atomaufsicht in Stuttgart habe man zwar informiert, „aber es wurde Geheimhaltung vereinbart” – um die (damals noch) geplante Laufzeitverlängerung für die Atommeiler nicht zu gefährden. „Wahrscheinlich muss erst eine Kernschmelze in Baden-Württemberg eintreten“, empörte sich der Absender, „um diese Machenschaften zu beenden.“

 

Gönner witterte Wahlkampfmanöver

Adressat des Briefes vom Februar 2011 waren Politiker der Grünen, die ihn umgehend ans Bundesumweltministerium weiterleiteten. Im Südwesten wurde er Mitte März durch einen StZ-Bericht bekannt – wenige Tage nach Fukushima und zwei Wochen vor der Landtagswahl. Prompt witterte die damals für die Atomaufsicht zuständige Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) ein „durchschaubares Wahlkampfmanöver“ der Grünen: Auf der Grundlage anonymer Anschuldigungen sollten ihre Kontrolleure diskreditiert werden.

Nun, gut ein Jahr später, lässt sich das Schreiben nicht mehr herunterspielen. Die Aufarbeitung durch Gönners Nachfolger Franz Untersteller (Grüne), die Bundesaufsicht und die Reaktorsicherheitskommission erhärtet zusehends die Vorwürfe des Anonymus. Immer mehr spricht dafür, dass tatsächlich Sicherheitsverstöße aus den Jahren 2009 und 2010 vertuscht wurden, dass deren Ursache „ein Mangel an Fachkunde und fehlendes Sicherheitsdenken“ war, dass es sich bei den drei Vorfällen in Block zwei nur „um die Spitze eines Eisbergs“ handelt. Auch die Parallele zu den schweren Pannen in Philippsburg, deretwegen 2001 zwei Vorstände gehen mussten und der Reaktor wochenlang stillstand, wird immer deutlicher. Die EnBW bekomme ein „Riesenproblem“, prophezeien Atomexperten – und der Tüv als Gutachter und die Landesaufsicht gleich dazu: Einiges spreche dafür, dass alle drei gemeinsam die Vorfälle unter den Teppich kehren wollten.

Brandschutz nur bedingt einsatzbereit

Schon im April 2011, kurz nach der Wahl, gab es ein erstes Eingeständnis: Da erstattete die EnBW nun doch offiziell Meldung über einen der drei Vorfälle, jenen vom Mai 2009. Dynamik hat die Aufarbeitung indes erst jetzt gewonnen, durch die von Untersteller eingeschalteten externen Gutachter. Nach und nach sollen Richard Donderer und Matthias Brettner vom Physikerbüro Bremen – beide Mitglieder der Reaktorsicherheitskommission – die drei Vorfälle untersuchen. Schon ihre erste Expertise förderte Brisantes zu Tage: Der Umbau der Feuerlöschanlage im Reaktorinneren sei entgegen den Vorgaben nicht während der Revision, sondern im laufenden Betrieb erfolgt. Am Sicherheitsdenken habe es dabei ebenso gehapert wie an der internen Kommunikation.

Sicherheitstechnisch ungleich gravierender als die offenen Armaturen, die in dem anonymen Brief thematisiert worden waren, sei indes ein anderer, bisher nicht beachteter Aspekt: Die Brandbekämpfung im Herz des Atommeilers sei wegen unzureichender Ersatzmaßnahmen 16 Tage lang beeinträchtigt gewesen. Untersteller nimmt diese Befunde, denen sich sein Haus anschloss, „sehr ernst“. Gleich für den Folgetag bestellte er die EnBW-Vertreter zu einem Gespräch ins Ministerium, bei dem es gekracht haben soll. Offiziell heißt es, die Unterredung Mitte März sei „offen und klar geführt“ worden. Von sofort an, so die Auflage des Landes, dürfen vergleichbare Arbeiten im laufenden Betrieb nur noch nach einer vertieften Prüfung vorgenommen werden. Von der EnBW wurde bis zu Beginn dieser Woche eine umfassende Stellungnahme verlangt, ebenso wie vom Tüv, der seinerzeit kein Problem erkennen konnte oder wollte.

Staatsanwaltschaft leitet neue Prüfung ein

Zugleich ging das Donderer-Gutachten an die Staatsanwaltschaft Karlsruhe, die wegen des Vorfalls 2011 schon einmal ermittelt hatte, aber das Verfahren im Herbst einstellte – und damit nach Ansicht der Deutschen Umwelthilfe die „Sicherheitsphilosophie“ der deutschen Atommeiler infrage stellte. Nun wird erneut geprüft, wie ein Behördensprecher sagte.

Unter Hochdruck geprüft wird auch bei der EnBW, ebenfalls mit bemerkenswertem Befund. Erst „bei der Zusammenstellung von Unterlagen“ für den Gutachter des Landes will man in Philippsburg ein bisher übersehenes Problem erkannt haben: Bei einer ebenfalls nicht gemeldeten Panne im Januar 2010 sei man von falschen Voraussetzungen ausgegangen, was die Notstromdiesel angehe. Die Folge: Kühlwasser hätte sich stärker erwärmt als erlaubt, weshalb „das Notspeisesystem formal als nicht verfügbar zu betrachten gewesen wäre“. Prompt erstattete der Stromkonzern nach zwei Jahren nachträglich eine „Eilmeldung“, die eigentlich innerhalb von 24 Stunden vorliegen müsste. Mit Spannung wird nun erwartet, was die Gutachter noch alles finden.

Nichts aus früheren Verstößen gelernt?

Die Reaktorsicherheitskommission (RSK) kann sich schon jetzt in ihrem Argwohn gegen die EnBW bestätigt sehen. Ungewöhnlich lange diskutierte der RSK-Ausschuss Reaktorbetrieb Ende Oktober, noch vor den nun aufgedeckten Verstößen, über die Sicherheitskultur in Philippsburg. Der Tenor war überaus kritisch, wie das inzwischen vorliegende Protokoll belegt. Aus den Vorfällen von 2001, wurde moniert, habe man offensichtlich nichts gelernt; die neuen Pannen zeigten wieder das gleiche Muster. Bedenklich stimmte die Experten, dass sie bei lange geplanten Maßnahmen auftraten und jeweils „viele Personen beteiligt“ gewesen seien. Ein solches „Kaskadenversagen“ spreche gegen Fehler Einzelner, sondern für ein Problem im System.

„Sehr bedenklich“ erschien ihnen auch die „Isolation der Führungsebene“, die erst nach drei Wochen von einem Vorgang erfahren habe; so lange sei dieser nur in der zuständigen Schicht diskutiert worden. Die Beteuerung der EnBW-Vertreter, das Sicherheitsmanagement sei gleichwohl uneingeschränkt wirksam, stieß auf erhebliche Zweifel. Aus der Unfallforschung wisse man, dass vor Unfällen gehäuft solche Ereignisse aufträten. Nur mit der Schulung der Mitarbeiter, so die RSK-Kritik, komme man den Problemen nicht bei; die Ursachen lägen tiefer in Philippsburg.

Auch die Atomaufseher werden geprüft

Noch ist es für Umweltminister Untersteller zu früh, über weitere Konsequenzen zu entscheiden. Gibt es wie 2001 personelle Folgen? Wird der Meiler wie damals bis zur Klärung der Probleme abgeschaltet? Doch der Grüne befindet sich in einer besonderen Zwickmühle, seit das Land Großaktionär der EnBW ist. Jeder Tag Stillstand kostet den Konzern, der durch die Energiewende schon den ersten Block in Philippsburg verloren hat, nach einer Faustregel eine Million Euro. Zuständig ist zudem der Technikvorstand (und frühere Philippsburg-Chef) Hans-Josef Zimmer, der mit Zustimmung des Landes gerade neu berufen wurde. Wahrscheinlich, vermuten Insider, werde am Ende wie 2001 der formal verantwortliche Leiter der Anlage „geopfert“. Auch die Rolle seiner eigenen Atomaufseher will der Minister nun „kritisch hinterfragen“, eine heikle Übung. Zumindest deren Chef wurde inzwischen ausgewechselt und ist damit unbelastet.

„Fundierten anonymen Hinweisen“ will Untersteller übrigens weiter nachgehen. Kein Wunder: ohne den Brief vom Februar 2011 wären die Verstöße wohl nie ans Licht gekommen – und die EnBW wäre längst wieder zur Tagesordnung übergegangen.