Zwei Drittel eines jeden Altersjahrgangs werden kieferorthopädisch behandelt. Das nutzt vor allem den Ärzten, kritisiert der Mannheimer Kieferorthopäde Henning Madsen.

Stuttgart - Etwa 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen jedes Altersjahrgangs sind in kieferorthopädischer Behandlung. Medizinisch zu begründen seien aber nur die wenigsten Therapien, sagt der Mannheimer Kieferorthopäde Henning Madsen. Er gehört zu den wenigen Vertretern seiner Zunft, die die Überversorgung offen thematisieren.

 
Herr Madsen, das kennen viele Eltern: Man geht mit Kindern zum Zahnarzt. Alles ist gut, aber dann schlägt der Zahnarzt eine Vorstellung beim Kieferorthopäden vor, weil er den Verdacht hat, dass eine Fehlstellung vorliegen könnte. Das Ende vom Lied – das Kind bekommt eine Zahnspange. Wie viel System steckt dahinter?
Zahnärzte haben grundsätzlich die Tendenz, Kinder und Jugendliche zum Kieferorthopäden zu schicken, wenn sie irgendetwas Auffälliges sehen. Dagegen ist zunächst gar nichts einzuwenden. Allerdings ist wissenschaftlich unstrittig, dass die meisten kieferorthopädischen Behandlungen ästhetisch motiviert sind und nicht gesundheitlich.
Viele Eltern wissen das nicht. Da sie nichts falsch machen wollen, gehen sie mit dem Nachwuchs eben zum Kieferorthopäden.
Zahnärzte setzen stillschweigend voraus, es sei irgendwie immer auch gut für die Gesundheit, was beim Kieferorthopäden gemacht wird. Eltern schließen sich dem an. Man kann aber Abweichungen vom Idealgebiss haben, die sogar für Laien auffällig sind, und trotzdem wird weder das Kauen beeinträchtigt noch nehmen die Kiefergelenke Schaden. Ich glaube, die meisten Zahnärzte und Kieferorthopäden denken darüber gar nicht nach. Sie haben das Bild einer idealen Verzahnung im Kopf. Wenn sie ein Gebiss sehen, das davon abweicht, kommt die Behandlungsempfehlung reflexartig.
Warum zahlen Krankenkassen dafür? Es gibt doch in der GKV eine klare Unterscheidung zwischen dem, was medizinisch notwendig ist, und dem, was ästhetisch vielleicht wünschenswert wäre. Letzteres müssen Patienten selbst zahlen.
Das liegt an einem Urteil des Bundessozialgerichts von 1972, wonach Zahn- und Kieferfehlstellungen Krankheiten seien. Das Urteil hat dazu geführt, dass die Zahl der Kieferorthopäden förmlich explodiert ist – und wir inzwischen zwei Drittel eines jeden Jahrgangs kieferorthopädisch behandeln.
Welcher Fall lag dem Urteil zugrunde?
Ein Vater hatte behauptet, seine Tochter werde an Parodontitis erkranken, wenn sie nicht kieferorthopädisch behandelt würde. Das ist aus heutiger Sicht falsch. Normalerweise schädigen schiefe Zähne das Zahnfleisch nicht. Rechtlich mögen Zahn- und Kieferfehlstellungen als Erkrankungen gelten. Medizinisch jedoch handelt es sich bei den meisten Abweichungen vom Idealgebiss, die wir sehen und behandeln, nicht um Erkrankungen.
Hunderttausende Kinder und Jugendliche werden behandelt, obwohl das rein medizinisch gar nicht indiziert ist. Müsste man das nicht revidieren?
Meines Erachtens müsste man das revidieren, ja. Aber die Krankenkassen zeigen keinerlei Interesse, obwohl bei den unter 18-Jährigen die Hälfte der Zahnausgaben allein auf die Kieferorthopädie entfallen. Gemessen am Gesamtkuchen ist das Stück vermutlich nicht groß genug. Die Kassen kümmern sich lieber um die ganz großen Ausgabenblöcke, um die Kliniken etwa oder die Arzneimittel.
Warum reagieren die Kieferorthopäden nicht mit einem Kurswechsel?
Ganz einfach: Wenn ein Kieferorthopäde einmal da ist, dann muss er auch behandeln. In Deutschland gibt es doppelt so viele Kieferorthopäden wie in manchen Nachbarländern. Und eine Praxis hat hohe Betriebs- und Investitionskosten.
Schon Grundschulkinder mit Milchgebiss werden als Patienten rekrutiert. Macht das Sinn?
Im Grundschulalter sind meist sechs bleibende Zähne pro Kiefer schon da. Das sind die vier Schneidezähne und der große Zuwachszahn, der Sechser. Es gibt einige wenige rechtfertigende Indikationen für eine Frühbehandlung. Aber die Tendenz ist schon, dass normalerweise viel zu früh angefangen wird.
Warum?
Das Motiv ist, die Behandlungsdauer möglichst auszudehnen. Das wird ihnen so aber niemand sagen. Meist heißt es, es wäre besser fürs Kind.
An diesem Punkt werden Eltern schnell weich. Wird in Deutschland zu lange behandelt?
Ja, definitiv. Die aktive Behandlungszeit ist doppelt so lang wie sie sein müsste. 18 bis 20 Monate sollten ausreichen. In meiner Praxis sind wir seit Jahren bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 18 Monaten. In Deutschland beträgt die vertragliche Behandlungsdauer vier Jahre, wobei im letzten Jahr das Ergebnis vermutlich nur noch überwacht wird. Ich gehe von drei Jahren aktiver Behandlungszeit im Durchschnitt aus.
Was verdient man an einer dreijährigen Behandlung?
In der gesetzlichen Krankenversicherung stehen auf dem Behandlungsplan im Durchschnitt 3000 Euro. Das übernimmt die Krankenkasse, wenn die Behandlung vor Vollendung des 18. Lebensjahres beginnt. Seit 2004 ist daneben ein Zuzahlungswesen für Wahlleistungen entstanden. Dadurch kommen noch einmal ca. 1000 Euro obendrauf, die privat zugezahlt werden. Insgesamt sind wir also bei Kosten von 4000 Euro für gesetzlich Versicherte. Bei privat Versicherten kann man von 6000 bis 8000 Euro ausgehen.
Was raten sie Eltern?
Wenn Kinder und Eltern mit den Zähnen zufrieden sind, der Arzt aber sagt, man müsste etwas machen, würde ich ganz kritisch nachfragen, ob ein medizinisches Risiko mit den Befunden verbunden ist. Und wenn ja, welches? Für die Zähne, für die Kiefergelenke oder Kaumuskeln? Solche Fragen sollten nachvollziehbar beantworten werden.
Bekommt man ehrliche Antworten?
Die meisten Ärzte dürften mit solchen Fragen eher überfordert sein und ausweichend antworten. Ich habe früher auch geglaubt, dass abweichende Zahnstellungen nicht gesund seien, weil ich es so gelernt habe. Aber das stimmt eben nicht.
Häufig hört man, dass eine falsche Zahnstellung Probleme für den ganzen Oberkörper bringen kann.
Zu glauben, dass Nacken- und Rückenprobleme von abweichenden Zahnstellungen herrühren, ist zur Zeit in Mode. Man hat das erforscht und herausgefunden, dass diese Annahmen falsch sind. Genauso wie die Behauptung, falsche Zahnstellungen würden zu Karies führen. Ich habe selbst die wissenschaftliche Literatur dazu ausgewertet. Es gibt dafür keinerlei Bestätigung. Andere Faktoren wie Mundhygiene und Ernährung spielen eine Rolle. Auch für Parodontalerkrankungen gilt, dass sich ein Zusammenhang nicht zeigen lässt.
Es gibt demnach keine größeren medizinischen Risiken, die mit Zahn- oder Kieferfehlstellungen verknüpft sind?
Ja, und das sollte man unbedingt ehrlich sagen. Der Hauptnutzen unserer Behandlung ist ästhetischer Natur. Deshalb ist in der Regel zu empfehlen, nicht vor Beginn der Pubertät anzufangen. Erst mit der Pubertät setzt das Schönheitsempfinden ein, erst dann kann man über den Nutzen einer solchen Behandlung sprechen – im Sinne einer mündigen Entscheidung.
Wenn man sagt, man macht eine Behandlung aus ästhetischen Gründen: Entscheidet man sich für eine festsitzende oder für eine herausnehmbare Spange?
Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen sind herausnehmbare Spangen zweit- oder drittklassig. Solche Spangen sind mechanisch beschränkt, viele Zahnbewegungen sind nicht machbar. Aber selbst wenn sie machbar wären, müsste man diese Spangen nachts und den halben Tag tragen, um wirklich Effekt zu machen – und das können die jungen Patienten nicht. Der Einsatz ist in meinen Augen deshalb meist unsinnig.
Wenn man so offen redet, macht man sich im Kollegenkreis nicht beliebt. Wie gehen Sie damit um?
Es gibt schon hin und wieder den Vorwurf, mein Verhalten sei unkollegial. Ich halte das für ein Missverständnis, denn ich diskreditiere die Kollegen nicht. Es geht mir um Missstände in der deutschen Kieferorthopädie. Es ist einfach nicht zu rechtfertigen, zwei Drittel jedes Jahrgangs solchen Behandlungen zu unterziehen, die ja für viele Jugendliche ziemlich belastend sind. Das geht weit über subjektive Behandlungswünsche hinaus, die bei etwa 30 Prozent jedes Jahrgangs liegen. Hinzu kommt die unglaubliche Länge und Ineffizienz der Behandlung. Hier sollte sich wirklich etwas ändern – und dafür ist die Gesundheitspolitik gefragt.