Wenn Heranwachsende in ihrer Familie keine Struktur haben, die ihnen Halt gibt, werden sie in ambulanten und stationären Einrichtungen betreut. Was aber, wenn die Pandemie dort den mühsam erarbeiteten Alltag bedroht? Ein Beispiel aus dem Landkreis.

Kreis Ludwigsburg - Es ist eine Frage der Abwägung: Kindeswohl gegen Infektionsschutz. Das Wohl des Kindes und der Schutz vor dem Corona-Virus gegen das Recht der Eltern, ihre Kinder am Wochenende zu sehen. Jeden Tag auf’s Neue sind in der Kinder- und Jugendhilfe der evangelischen Brüdergemeinde Korntal in den letzten Wochen fast existenzielle Fragen aufgekommen. Für Eltern, Kinder, aber auch Mitarbeiter. „Was ich mir gewünscht hätte, wäre Klarheit in Bezug auf den Infektionsschutz“, sagt Dorothea Winarske. Sie leitet kommissarisch die Jugendhilfe Korntal. Einen Leitfaden mit Handlungsanweisungen gab es nicht. „Das hätte ich sehr begrüßt.“ Statt dessen wurde auf die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts für Pflegeeinrichtungen verweisen. Darin ging es um Isolierzimmer und Schutzschleusen. „Das fand ich nicht hilfreich.“

 

Mitarbeiter hängen sich noch mehr rein

Seit einem Vierteljahr beherrscht die Pandemie die Kinder- und Jugendhilfe auch in Korntal. Vom Umgang in den beiden stationären Kinder- und Jugendheimen einmal abgesehen, gibt es auch für die Tagesgruppen keinen gewohnten Alltag mehr. Davon betroffen sind Sechs- bis 18-Jährige. Erst in dieser Woche sind wieder alle Gruppen aktiv, allerdings je in zwei Kleingruppen aufgeteilt. Die Schule beginnt zwar wieder, dennoch benötigte Winarske wegen der Kleingruppen plötzlich und schnell mehr Personal. Manches konnte sie auffangen, weil Mitarbeiter flexibel reagierten. Sie stockten auf, schichteten um. „Dafür bin ich sehr dankbar.“

Winarske ist sich aber auch sicher, dass die Mitarbeiter aus einem inneren Druck heraus die Situation bewerkstelligen. Welcher Mitarbeiter, der darum bemüht ist, seinem Schützling Halt zu geben, würde das Kind, den Jugendlichen in dieser Situation schon alleine lassen wollen? Die Heranwachsenden werden deshalb in den Jugendhilfeeinrichtungen betreut, weil sie zuhause keine Verlässlichkeit erleben, es keine Beziehungen gibt, die die soziale, emotionale Entwicklung förderten.

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Nachträglich hatte der Staat die Kinder- und Jugendhilfe als systemrelevant anerkannt, „aber das findet in der Politik sonst zu wenig Widerhall“, sagt Winarske. Im Zweifelsfall würde die Kinder- und Jugendhilfe als Kostenfaktor gesehen. Dabei leiste sie einen Beitrag für ein gelingendes Miteinander in sozialem Frieden.

Die Diakonie der evangelischen Brüdergemeinde Korntal musste wie jeder andere Jugendhilfeträger auf Verordnung des Landes die ambulanten Tagesgruppen zunächst schließen. „Die Mitarbeiter waren viel am Telefon.“ Aber nur durch Telefonate mit ihren Schutzbefohlenen würden sie ihrem Auftrag nicht gerecht werden, das zeichnete sich bald ab. Winarske nennt ein Beispiel: Eine fünfköpfige Familie, die in einer Zweizimmerwohnung lebt, die Mutter psychisch chronisch krank, der Vater plötzlich den ganzen Tag zuhause. „Dadurch kann eine sehr reizbare Situation entstehen“, sagt die Heilpädagogin. Mitte April ermöglichte das Land dann zunächst eine Einzelfallbetreuung.

Die Beziehungsarbeit hat gelitten

Die Diakonie der evangelischen Brüdergemeinde gehört kreisweit zu den großen Jugendhilfeträgern. Sie ist laut dem Landratsamt eine von zehn Trägern, mit denen der Kreis in der Kinder- und Jugendhilfe kooperiert. Dort sind bisher nicht auffällig mehr Fälle verzeichnet worden. Aber „es ist damit zu rechnen, dass mit der schrittweisen Öffnung der Schule und Kindergärten mehr Meldungen von den Stellen kommen, die mit den Kindern im Kontakt sind“, sagt der Sprecher des Landratsamtes. Die Themen Gewalt, Vernachlässigung und Konflikte in der Familie werden das Jugendamt und die freien Träger der Jugendhilfe in den kommenden Wochen beschäftigen – wohl mehr noch als vor Corona. Ähnlich schätzt der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) die Situation ein. Das Landesjugendamt kann nach eigenen Angaben noch nicht einschätzen, wie sich die Krise auf die Kinder und Jugendlichen auswirke.

Von diesem Montag an sind in der Jugendhilfe zu der Einzelfallbetreuung auch wieder Treffen in Kleingruppen möglich. „Dann hoffen wir, dass wir wieder im guten Kontakt sein können“, Aber die 54-Jährige ist sich bewusst, dass in manchem Fällen die Beziehungsarbeit gelitten haben wird. „Man wird vielleicht drei Schritte zurückgehen müssen.“