Zu wenig Sport in der Pandemie „Das ist eine tickende Zeitbombe“

Bewegung und Sport in Vereinen wie in Vor-Corona-Zeiten – das hat vielen Kindern und Jugendlichen im Lockdown gefehlt. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Der Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen wird weitreichende Folgen haben, sagt Alexander Woll, Leiter einer bundesweiten Motorik-Studie – und präsentiert überraschende Ergebnisse.

Karlsruhe Der Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen wird weitreichende Folgen haben, sagt Alexander Woll, Leiter einer bundesweiten Motorik-Studie. Der Karlsruher Sportwissenschaftler leitet seit 2002 das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Langzeitprojekt „Motorik-Modul-Studie zur Entwicklung von körperlicher Aktivität, Fitness und Gesundheit in Deutschland“ – und kommt zu überraschenden Ergebnisse. -

 

Professor Woll, wie lange halten es Kinder ohne Sport und Bewegung aus?

Ohne Sport halten es einige ja lebenslang aus (lacht), aber ohne Bewegung geht es nicht – die gehört zum gesunden Aufwachsen dazu. Sie ist wichtig für die kognitive, psychische und motorische Entwicklung. Da fiel ein enorm wichtiger Bereich im Leben der Kinder und Jugendlichen weg.

Sie haben 1700 Kinder im Alter von vier bis 17 Jahren befragt – wie hat sich die sportliche Aktivität während der Pandemie verändert?

Im ersten Lockdown hat die körperliche Alltagsbewegung pro Tag um 20 Minuten zugenommen. Mit Radfahren, Laufen, Wandern. Das war überraschend. Allerdings hat auch die Inaktivität, das Sitzen, stark zugenommen: Täglich gab es eine Stunde mehr Aktivität im Sitzen – ohne Homeschooling.

Und was ist im zweiten Lockdown passiert?

Da sind unsere Zahlen noch nicht ganz ausgewertet, die Ergebnisse gibt es ab Mitte März. Zwei Dinge haben sich jedoch verändert: Die Outdoor-Aktivität und das Draußen-Spielen ist wetterbedingt stark zurückgegangen. Und die Online-Sport-Angebote haben zugenommen. Die Krise hat die Entwicklung beschleunigt. Weitere Faktoren beeinflussen, wie gut Kinder da durchkommen: Kinder, die naturnah wohnen oder einen Garten nutzen können, kommen besser durch diese Zeit als Kinder in der Innenstadt mit wenig Raum und Spielmöglichkeiten. Es gibt Bewegungsmangel-Hotspots.

Vereine sind soziale Tankstellen: Welche Rolle spielt es, dass sie so lange geschlossen waren?

Das ist gesellschaftlich ein Riesenproblem. Der psychosoziale Stress hat in der Pandemie enorm zugenommen, soziale Netzwerke waren vollständig zurückgefahren. Die psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen sind eklatant gestiegen. Sport dient dazu, sozialen Stress abzubauen. Kinder, die sich viel bewegen, sind psychisch stabiler. 80 Prozent aller Kinder sind im Laufe ihres Lebens in einem Sportverein. Da hat man soziale Netzwerke, trifft Freunde, kann sich austauschen.

Werden Kinder und Jugendliche wieder in die Vereine zurückkehren?

Ein ganz klares Ja. Es gibt ein gigantisches Bedürfnis nach sozialen Kontakten und analogen Sportangeboten. Der Wunsch nach echten Begegnungen ist groß. Die Menschen lechzen nach Gruppenerlebnissen, wie sie gerade Mannschaftssportarten bieten. Der Niedergang der Vereine, den manche an die Wand malen, sehe ich nicht – im Gegenteil. Viele merken jetzt, was der organisierte Sport für die Gesellschaft leistet. Sie haben eine herausgehobene Bedeutung, gerade in Baden-Württemberg.

Gesunde und fitte Kinder sind oft gesunde und fitte Erwachsene. Müssen wir uns Sorgen um die Gesundheit der nächsten Generation machen?

Ja, das müssen wir. Eine Studie aus Korea hat eine überproportionale Gewichtszunahme bei Kindern in der Pandemie festgestellt. Unsere Motorik-Modul-Studie zur Entwicklung von körperlicher Aktivität, Motorik und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zeigt, dass das auch bei uns zur tickenden Zeitbombe werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein übergewichtiges Kind ein übergewichtiger Erwachsener wird, liegt bei 80 Prozent. Da zu investieren lohnt sich aus gesundheitlicher und ökonomischer Sicht. Ein gutes Immunsystem und eine gute Fitness sind Schutzfaktoren vor Krankheiten. Bewegung und Sport wurde nur als Teil des Problems gesehen – sie sind aber Teil der Lösung, um die Pandemiefolgen abzumildern. Das stand auf der Prioritätenliste leider nicht ganz oben – das ändert sich nun hoffentlich.

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