Im ARD-Filmdebüt „Morris aus Amerika“ zeigt die Titelfigur, zu was blutjunge Schauspieler ohne Lehre und Übung in der Lage sind. Ein Blick in die Welt des Schauspielnachwuchses, der oft erdulden muss, was selbst Erwachsene überfordert.

Heidelberg - Markees Christmas hat nicht nur einen echt seltsamen Namen, der junge Schauspieler verkörpert in „Morris aus Amerika“ auch einen echt schrägen Vogel: Anders als die Eingeborenen in seiner Heidelberger Schule kann der farbige, leicht pummelige Eigenbrötler Morris kaum Deutsch, dafür aber rappen wie kein Zweiter. Dass man ihm 90 Minuten lang alles glaubt, als sei er nicht fiktiv, sondern real, liegt an Markees Christmas.

 

„Wahnsinn“ nennt Regisseur Chad Hartigan die Seele seines zweiten Langfilms, der in der Reihe „Filmdebüts im Ersten“ in der Nacht auf Mittwoch um 1.15 Uhr läuft, „ein Wunder“. Christmas, bei den Dreharbeiten vor drei Jahren kaum 15, spielt mit einer reduzierten Inbrunst einen 13-Jährigen, die sprachlos macht – und beschwingt. Hip-Hop scheint dem Außenseiter Zugang zur Welt der Gleichaltrigen zu verschaffen.

Den Raum zwischen Selbstzweifel und Trotz, Anspruch und Wirklichkeit füllt Markees Christmas mit einer Aura, die ohne viel Getöse Funken versprüht und damit manch internationales Filmfestival gerockt hat. Fazit: „Morris aus Amerika“ ist die reife Leistung eines Jungen ohne Ausbildung und Lebensweisheit, aber mit der Kraft von Talent und Leichtigkeit.

Spiel und Realität unterscheiden

Selbst bleischwere Sozialdramen kommen selten ohne Beteiligung Minderjähriger aus. Aber wo Kinder im Kinderfilm auch kindlich sein dürfen, bringen härtere Stoffe selbst Erwachsene an ihre Belastungsgrenze. Doch auch junge Darsteller, die keine Schauspielschule besucht haben, sind zu Großem fähig – wie in Rainer Kaufmanns „Operation Zucker“.

Erst zehn Jahre alt, spielte Paraschiva Dragus 2012 die Kinderprostituierte Fee darin mit so stoischem Ernst, als befände sie sich tatsächlich in der Gewalt pädophiler Fleischberge. Für Heranwachsende ist kein härterer Stoff denkbar als sexueller Missbrauch. Warum er dennoch keine Spuren in der jungen Darstellerseele hinterlassen hat, weiß Dragus’ damalige Agentin. „Was Spiel ist und was Realität“, erinnert sich Dorothea Trebs, „konnte Paraschiva schon früh genau unterscheiden“.

Damit Gleichaltrige die Notwendigkeit drastischer Szenen verstehen, ohne den Spaß am Spiel zu verlieren, ist nicht nur das pädagogische Gespür des Teams gefragt. Oft gibt es professionellen Beistand. Da der Themenkomplex Krankheit, Tod, Sexualität so belastend war, stand Trebs’ Schützling Ella Frey (13) am Set des Kinofilms „Glück ist was für Weicheier“ kürzlich eine Psychologin zur Seite. Als ihr eigener Sohn unlängst vor der Kamera stand, ordneten Jugend- und Sozialamt gar die Änderung ganzer Drehbuchpassagen an.

Zu Tränen rührend

Das Kindeswohl ist, anders als Filme wie „Operation Zucker“ suggerieren, ein hohes Gut in Deutschland. Trotzdem ist vieles möglich vor der Kamera. In „Jagdgesellschaft“ avancierte die damals achtjährige Carlotta von Falkenhayn 2016 zur Stammbesetzung trister Gesellschaftsstudien. Erst kürzlich war sie in der Netflix-Serie „Dark“ als taubes Kind mit traurigem Blick zu sehen, der wortlos zu Tränen rührte. Nico Ramon Kleemann hat es 2013 keinesfalls geschadet, in Christoph Röhls Odenwaldschulen-Rekonstruktion „Die Auserwählten“ ein Missbrauchsopfer von schwer verdaulicher Authentizität zu mimen. Mittlerweile fast volljährig, weist der Rotschopf ein Dutzend Filmeinsätze auf – und nicht wenige davon sind Komödien. Was jedoch nicht heißt, dass früher Erfolg mit reifem Inhalt folgenlos bleiben muss.

Darum rät die Kölner Kinder-Casterin Maria Schwarz zum behutsamen Karriereaufbau. Die erste Frage ihrer Agentur laute stets: „Warum willst du schauspielern?“ Angesichts von 1000 Euro, die Halbwüchsige in einer der jährlich 10 000 Film- und Serienproduktionen schon mal pro Drehtag kriegen, müsse der Spaß im Vordergrund stehen. Auch ihr Kollege Achim Gebauer castet nach „Persönlichkeit und Ausstrahlung“ statt Ehrgeiz, gar Profitgier. „Tenniseltern, die ihre Kinder pushen“ betreut seine Berliner Agentur Tomorrow nicht. Aber wenn sie nicht grad von Helikopter-Dads wie Til Schweiger oder Uwe Ochsenknecht in die Branche gepresst werden, werden die meisten Nachwuchsstars ohnehin auf dem Spielplatz entdeckt oder im Café. Markees Christmas wurde in der Schule gecastet. Kenner sagen ihm eine große Karriere voraus.

Ausstrahlung: „Morris aus Amerika“ läuft in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni um 1.15 Uhr im Ersten.