Stuttgart bezeichnet sich gern als kinderfreundlich. Ist die Landeshauptstadt aber auch kinderwagenfreundlich?

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Es sind eigentlich nur ein paar hundert Meter, die es zu bewältigen gilt, aber diese können gefühlt zu einer Reise zum Mond werden – inklusive eingebautem Hindernisparcours. Hannah Schneider fuhr vor einigen Monaten mit ihrem Freund und dem damals zwei Wochen alten Sohn Max mit der U-Bahn vom Österreichischen Platz zum Hauptbahnhof, um von dort in einen Fernzug zu steigen. Am Stadtbahnsteig am Arnulf-Klett-Platz begannen die Probleme: Da das Paar mit dem Neugeborenen im Kinderwagen nicht die Rolltreppe nutzen wollte, machte es sich auf die Suche nach einem Fahrstuhl. „Mir war vorher nicht bewusst, wie kompliziert es ist, mit einem Kinderwagen von unten nach oben zu gelangen“, sagt Schneider. Rund 40 Minuten brauchten sie– ihren Zug erwischten sie gerade noch. „Klar, wenn man einmal weiß, wo man lang muss, geht es bedeutend schneller“, sagt Schneider, „aber es gibt ja auch viele Ortsfremde.“

 

Schneider kennt Stuttgart eigentlich gut – zumindest ohne Kinderwagen. Die 28-Jährige hat vier Jahre lang in der Landeshauptstadt studiert, war dann zwei, drei Jahre weg, und lebt nun seit eineinhalb Jahren im Heusteigviertel. Ihre Wege durch die Stadt haben sich aber generell verändert, seit Max vor fünf Monaten zur Welt kam: Dort ist eine unüberwindbare Treppe, da ein Bahnsteig ohne Rampe (etwa an der Haltestelle Bopser), hier ein zu enger Gehweg, drüben parken die Autos zu dicht, als dass man mit Kinderwagen durchpasst. In die Zacke kommt man mit Kinderwagen ohne Hilfe gar nicht.

„Wir sind die Critical Mass der Kinderwagen“

Und das in Stuttgart, der Stadt, die sich gern als kinderfreundlich rühmt. Kinderfreundlich, das heißt aber im Zweifel eben auch kinderwagenfreundlich. Darauf wollen Hannah Schneider und ihre Mitstreiterinnen mit der Kinderwagenkarawane am 11. August aufmerksam machen.

Die Kinderbeauftragte der Stadt, Maria Haller-Kindler, findet die Aktion „toll, weil sie auf die Erfahrungen von Eltern und Kleinkindern aufmerksam macht“. Ihrer Meinung nach gibt es zwar in Stuttgart eine „sehr ordentliche Infrastruktur, was Aufzüge und kinderwagentaugliche Übergänge anbelangt“. Haller-Kindler weiß aber auch, dass Aufzüge oft außer Betrieb sind und es zu lange dauert, bis sie instand gesetzt sind. Auch der Problematik um die vielen Baustellen und Falschparker, die ein Durchkommen mit Kinderwagen gefährlich oder unmöglich machen, ist sie sich bewusst.

Als Hannah Schneider sich eines Tages mit den Frauen aus ihrem Geburtsvorbereitungskurs traf und sie zu zehnt die Babys nebeneinander her schoben, war es so, als wären „wir die Critical Mass der Kinderwagen“. Die Idee für die Kinderwagenkarawane war geboren. „Ich bin früher selbst bei der Critical Mass der Radler mitgefahren und finde die Idee gut, dass man in der Gemeinschaft auf Missstände hinweist“, sagt die Dozentin im Bereich Design und Innovation, die noch bis zum Jahresende in Elternzeit ist.

Es gibt Mütter, die sich nicht trauen, mit Kinderwagen den Bus oder die Bahn zu nehmen

Am 11. August wird sich nun also die erste Kinderwagenkarawane ihren Weg vom Rathaus zum Marienplatz bahnen. „Das soll keine bierernste Veranstaltung werden, es ist uns bewusst, dass die Menschheit größere Probleme hat“, sagt Schneider. Es ist ihr und ihren drei, vier Mitstreiterinnen indes durchaus ein Anliegen, das „Thema ins Bewusstsein zu heben und den Kinderwagen sichtbar zu machen“, zumal das Thema Barrierefreiheit auch Rollstuhlfahrer betrifft. Schneider hofft, dass dadurch „der eine oder andere mal einer Mutter mit Kinderwagen hilft, oder dass bei der Stadtplanung über Rampen nachgedacht wird“.

Hilfe und Rampen statt Klagen und Anschuldigungen: „Wir wollen keine Anti-Demo sein“, sagt Schneider. Die Aktivisten sind nicht gegen, sondern für etwas: für abgeflachte Bordsteine, breite Verkehrsinseln und für eine Beschilderung, damit es solche Probleme wie am Hauptbahnhof nicht mehr gibt. Oder für einen kleineren Abstand zwischen Bahn und Fahrsteigkante. „Wir haben kein Auto, und somit bin ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen“, sagt Schneider, „ich würde mich dahingehend auch als relativ mutig bezeichnen“.

Sie kennt aber auch Frauen, die sich nicht trauen, allein mit Bus oder Bahn zu fahren. Das liege mit daran, dass man in der Schwangerschaft meist noch zuvorkommend behandelt werde, mit Kind aber oft als Störfaktor wahrgenommen werde. Zumal, wenn das Baby gerade schreit.

Es gibt auch sehr persönliche Vorstellungen von einer kinderwagenfreundlichen Stadt

Es geht also auch um die kleinen Dinge, zu denen jeder beitragen kann: um die Rücksichtnahme. Auch beim Parken etwa, denn mit einem Kinderwagen ist oft kein Durchkommen zwischen eng stehenden Autos. Neben diesen offensichtlichen Missständen, die die meisten Eltern beklagen – auch in Diskussionsbeiträgen auf Facebook etwa –, gibt es auch noch sehr persönliche Vorstellungen von einer kinderwagenfreundlichen Stadt. Eine Mutter hätte gerne Kinderwagenparkplätze vor Cafés und Geschäften, die man nur über Stufen erreichen kann – damit der Gehweg nicht blockiert wird. Eine andere Frau fährt nicht mehr mit der U-Bahn, da im Schacht die Feinstaubbelastung so hoch sei. Doch beim Wunsch nach einer Umwelt ohne Feinstaub bleibt wohl wirklich nur die Reise zum Mond – leider.

Die erste Kinderwagenkarawane findet am 11. August um 14 Uhr statt. Treffpunkt ist vor dem Rathaus, Ziel der Marienplatz.