Der Alltag des 12-jährigen Tiga und vieler anderer Kindersklaven in Haiti sieht traurig aus. Eine Schulbildung ist für sie oft unerreichbar.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Haiti - Wenn für Tiga die Nacht endet, ist der Tag in Wharf Jérémie noch fern. Weit vor sechs Uhr morgens verlässt der Junge sein hartes Lager. Es besteht aus vier weißen Pflastersteinen, gepolstert mit ein paar alten Stofffetzen, und es liegt unter dem Bett von Romelus und Eli, seiner Familie, wenn man das so nennen will.

 

Während Romelus und Eli Duresier sich noch einmal umdrehen, beginnt Tiga mit der Hausarbeit: „Wasser holen gehen, Geschirr spülen, Reis und Bohnen aufsetzen“, sagt er so leise, dass man sich zu ihm hinunterbeugen muss, um ihn zu verstehen. Tiga Duresier ist 12 Jahre alt, ein Junge mit einem traurigen Gesicht und großen Augen und einem Leben, das man keinem Hund wünscht. Tiga ist ein sogenannter Restavèk, eines von geschätzten 300 000 Kindern, die in Haiti bei anderen als ihren Ursprungsfamilien leben. Das Wort leitet sich aus dem französischen „Rester avec“ ab – bei jemandem bleiben. In Haiti bedeutet es: für jemanden knechten. Restavèk sind Kindersklaven, ausgerechnet in dem Land, das vor mehr als 200 Jahren als erstes in Amerika die Sklaverei abgeschafft hat.

Restavèk-Kinder stammen zumeist aus Familien vom Land, wo die Not noch größer ist als in der Stadt. In den Provinzen des ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre gibt es nie genügend zu essen, kaum Einkommensmöglichkeiten und noch weniger Gesundheitsversorgung. Viele Familien können ihren Nachwuchs nicht ernähren und schicken ihn zu Familien nach Port-au-Prince, die ein bisschen weniger arm sind. Meist sind es Bekannte oder Verwandte. Dort müssen die Restavèk dann Hausarbeit verrichten, Kinder hüten. Im Gegenzug erhalten sie Nahrung und Unterkunft. Auch wenn das meist der nackte Boden, oder wie bei Tiga, ein Lager aus Pflastersteinen ist.

Hunderttausende leben als Waisen

„Es gibt weder in der Gesellschaft noch in der Politik eine Sensibilität für das Problem der Restavèk, es ist tief in der Geschichte Haitis verwurzelt“, sagt Alinx Jean-Baptiste, der für die Duisburger Hilfsorganisation Kindernothilfe arbeitet. Traditionell haben Kinder in dem armen Karibikstaat keine Rechte, sondern nur Pflichten. „Ti moun se ti bête“ – „Kinder sind Tiere“, heißt es in der Landessprache Kreolisch. Darin drückt sich das gesamte Grauen des Kindseins in Haiti aus, wo Jungen und Mädchen vor allem nützlich sein müssen.

Neben den Restavèk-Sklaven leben Hunderttausende als Waisen in Heimen oder einfach auf der Straße. Für andere prägen zerrüttete Familien, Aids, Gewalt und bittere Armut den Alltag. Nur jedes vierte Kind im Grundschulalter geht zur Schule, jedes dritte Kind ist unterernährt, jedes fünfte Baby wird untergewichtig geboren.

Tiga hat es da noch vergleichsweise gut, er ist bei Verwandten untergekommen, sie tragen den gleichen Nachnamen, er wird nicht geschlagen. Wer andere Restavèk-Kinder trifft, sieht offene Wunden an Armen, die von Schlägen mit Gürteln stammen, oder Beulen, die von Prügel mit einem Holz herrühren. Tiga lebt mit seiner „Tante“ und seinem „Onkel“, wie er die Hausherren nennt, einem Baby und zwei Pubertierenden in einer Hütte von kaum zehn Quadratmetern. Außer dem Bett ist noch Platz für Tisch, Stuhl, darauf ein Schwarz-Weiß-TV-Gerät. Als Tür dient eine Plastikplane. Gekocht wird auf einem tragbaren Holzkohleherd, auf den gerade ein Topf passt. Und die Duresiers wohnen noch vergleichsweise komfortabel.

Wharf Jérémie ist eines der elendsten Bidonvilles der haitianischen Hauptstadt. Das Wort Slum beschreibt nur unzureichend diese Ansammlung von Hütten aus rostigem Wellblech, Planen, Planken und Platten, dort aufgestellt, wo andere Unrat und Exkremente verklappt haben. In den engen, oft nur Zentimeter breiten Gassen, steht das Wasser aus dem nahen Abwasserkanal knöcheltief. Halbnackte Kinder spielen neben stinkenden Pfützen. Wharf Jérémie liegt gleich am Hafen von Port-au-Prince. Irgendwo am Horizont schimmert türkisfarben und surreal das Meer, während sich hier die Probleme versammeln, die Haiti zu einem Stück Afrika in Amerika machen: Dreck, Hunger, Armut, Gewalt.

Für viele Kinder ist Bildung unerreichbar

Wenn Tiga im Morgengrauen die Hausarbeit hinter sich gebracht hat, beginnt für ihn der angenehme Teil des Tages. Er dauert von 7.45 Uhr bis 12 Uhr. Es ist Schule. Keine Selbstverständlichkeit in Haiti, auch wenn Präsident Michel Martelly mit einem kostenlosen Bildungsprogramm die Einschulungszahlen deutlich erhöhen konnte. Das gilt aber nicht für Restavèk. Für die Sklavenkinder von Port-au-Prince ist Bildung oft unerreichbar. Zwischen Hausarbeit und Misshandlung bleibt meist kein Platz für Schule. Zudem sind die Familien oft so arm, dass sie kaum das Schulgeld für die eigenen Kinder aufbringen.

Tiga hingegen kann seit drei Jahren zur Schule gehen. Er besucht die „Ècole Communautaire de la Foi“, eine kleine Grundschule einer kirchlichen Organisation in Wharf Jérémie, die von der Kindernothilfe unterstützt wird. Von den 230 Schülern sind mehr als die Hälfte Sklavenkinder. Gerade für sie ist der Schulalltag oft die einzige Freude. Dort werden sie nicht nur unterrichtet, sondern bekommen auch Aufmerksamkeit, Zuneigung und eine warme Mahlzeit.

In dem Einraumgebäude, das sonntags als Kirche dient, sitzen die Schüler von vier Klassen dicht gedrängt in rot karierten Uniformen. Die Klassen sind nur durch Vorhänge abgetrennt. Tiga lernt heute Addieren. Hier im Unterricht ist seine Zurückhaltung verflogen. Er zählt laut, lächelt. Pasteur Luckner Guerville, Leiter der kleinen Grundschule, sagt: „Hier können die Schüler sein, was sie sind – Kinder. Daheim erwarten sie wieder Arbeit, Hunger und oft auch Prügel.