Ab ihrem fünften Lebensjahr besucht eine Frau aus Kernen ein Kindertagheim in Fellbach. Dort sind Prügel und Misshandlungen an der Tagesordnung.

Rems-Murr: Simone Käser (sk)

Fellbach - Sabrina Möller war ein eher dickeres Kind. Das lag aber weniger daran, dass es ihr immer so gut geschmeckt hätte. Nein, die Frau, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hatte Angst davor, was passiert, wenn sie ihren Teller nicht leer isst. „Ich habe geschaufelt, was da Zeug hält. Bei mir war nie etwas übrig, dadurch war ich gut beieinander.“

 

Kein Wunder: In dem Kindertagheim in Fellbach, in dem die heute 68-Jährige ab dem Alter von fünf Jahren täglich von morgens sieben bis abends 18 Uhr betreut wurde, griff man rigoros durch bei schlechten Essern. „Ich habe Kindergartenkinder beobachtet, die nicht aufessen konnten oder wollten. Sie wurden gezwungen bis zum Erbrechen. Das Erbrochene mussten sie dann auch essen“, sagt Sabrina Möller. Das sei ihre früheste Erinnerung an das Tagheim gewesen, in dem sie sechs Jahre voller Angst, Wut und Ohnmacht verbrachte.

Da stand sie dann in den 1950er-Jahren als geschiedene Frau mit Kind, die arbeiten musste

Ihrer Mutter macht die Frau aus Kernen keine Vorwürfe. Nach der Trennung vom Mann war diese mit ihrer damals fünfjährigen Tochter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Mecklenburg nach Fellbach geflüchtet, weil in Luginsland schon die ältere Schwester wohnte.

Da stand sie dann in den 1950er-Jahren als geschiedene Frau mit Kind, die arbeiten musste. „Dass es da ein Tagheim mit langen Öffnungszeiten gab, war ein Novum zu der Zeit und ein Segen für meine Mutter“, sagt Sabrina Möller. Sie habe ihrer Mama von den Erlebnissen in dem Tagheim, das nahe des Fellbacher Rathauses lag, berichtet. „Meine Mutter ist auch mal hingegangen, aber als Frau ohne Mann an der Seite wurde sie mit der Beschwerde gar nicht für voll genommen“, sagt Sabrina Möller. Andererseits sei es der damaligen Generation auch schwergefallen zu glauben, dass in einem Tagheim schlimme Dinge passieren. Darauf, also auf die Tatsache, dass nicht weiter weg, „sondern direkt vor den Augen der obrigkeitshörigen Eltern solche Sachen geschahen“, möchte Sabrina Möller aufmerksam machen. „Man thematisiert so etwas immer nur in Waisenhäusern. Aber Misshandlungen gab es eben auch in Tagheimen, obwohl es dort Eltern gab, die hätten eingreifen können“, sagt Sabrina Möller.

Weil sie oft nicht gleichförmig mitschwamm, wurde sie häufig ins Büro der Leiterin zitiert und dort geschlagen

Die heute 68-Jährige hatte zwar damals die Strategie des Aufessens entwickelt, um bei den Mahlzeiten nicht gequält zu werden, aber sie wurde von der damaligen Leiterin häufig misshandelt und verprügelt. Noch ganz genau kann sich Sabrina Möller an „Tante Leni“ erinnern. „Sie hatte graue Haare und war schrecklich.“ Einige jüngere Erzieherinnen seien netter gewesen, hätten aber unter der Herrschaft von „Tante Leni“ gestanden, sagt Sabrina Möller, die sich auch erinnern kann, dass den jüngeren Kindern Pflaster auf den Mund geklebt wurden. „Ich ertrage Ungerechtigkeit nicht. Deshalb konnte ich das nicht mit angucken“, sagt die Frau aus Kernen.

Weil sie oft nicht gleichförmig mitschwamm, wurde sie häufig ins Büro der Leiterin zitiert und dort geschlagen. Mit zwölf Jahren flehte Sabrina Möller, die oft in der Bücherei im Keller Schutz vor den Misshandlungen suchte, die Mutter an, sie nicht mehr dorthin zu schicken. „Ich versuchte sie zu überreden, dass ich alt genug wäre, um als Schlüsselkind nach der Schule allein zu sein.“

Doch die Mutter war hilflos. „Ich habe all die Jahre geweint und gebettelt, aber sie musste mich schicken, sonst wäre sie ihren Job los gewesen.“ Wer so etwas erlebt, ist geprägt. Jahrzehntelang wird die heute 68-Jährige von Albträumen heimgesucht. Durch ihre persönliche Vorgeschichte war es Sabrina Möller nicht möglich, ihre eigene Tochter in eine Ganztagsbetreuung abzugeben. „Ich hatte eine gute Anstellung und bin früh wieder arbeiten gegangen, aber ich habe eine Tagesmutter genutzt.“