Grund zum Feiern für das Junge Ensemble Stuttgart: Vor genau zehn Jahren ist das Kinder- und Jugendtheater gegründet worden. Und die Chefs dort haben viel richtig gemacht. Denn das Theater läuft so gut, dass das Publikum Schlange steht.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Typisch, könnte man denken: erst reicht man den kleinen Finger, schon soll es die ganze Hand sein. Erst bekommt Stuttgart ein eigenes Kindertheater mit schöner Spielstätte und einem Etat, der sogar für ein kleines Ensemble reicht – und dann platzen die Depots schon wieder aus allen Nähten. Die Schauspieler kommen kaum noch zum Verschnaufen. Die Intendantin sagt es so: „Der Laden läuft hochtourig.“

 

Am Samstag feiert das Junge Ensemble Stuttgart (Jes) Geburtstag. Vor zehn Jahren ist das Kinder- und Jugendtheater gegründet worden. Brigitte Dethier hat damals bei Null begonnen – ohne Requisiten- und Kostümfundus, ohne Zuschauerkartei, ohne Arbeitsräume. Und zum Start sogar ohne Theaterbühne, denn beim Umbau des Tagblatt-Turms gab es Probleme – sodass die ersten Stücke an kuriosen Spielorten herauskamen: einer Baracke auf dem ehemaligen Dinkelacker-Gelände und dem Presseraum des Daimler-Stadions.

In den ersten Jahren gab es durchaus Tage, an denen Brigitte Dethier am liebsten wieder das Handtuch geschmissen hätte. Man hatte sie vom Mannheimer Schnawwl nach Stuttgart gelockt – um ihr gleich nach ihrem Amtsantritt wieder 25 000 Euro zu streichen. Der CDU-Fraktionschef Michael Föll befand die Summe für den Aufbau des Theaters als zu hoch und beantragte Nachforschungen, ob ein dreizehntes Monatsgehalt für die Schauspieler denn wirklich sein müsse.

Das Theater brummt

Brigitte Dethier und ihre Mitstreiter haben das Beste daraus gemacht. Deshalb sind sie im Grund auch selbst schuld daran, dass das Jes nun „an Grenzen kommt“. Das Theater brummt. Es läuft so gut, dass das Publikum Schlange steht. Kinder und Jugendliche, Eltern und Lehrer, sie wollen immer mehr und mehr Vorstellungen sehen, sodass der Schauspieler Gerd Ritter in der vergangenen Saison allein 123 Mal gespielt hat – abgesehen von den täglichen Proben.

Das Jes ist eine Erfolgsgeschichte, mit der wohl niemand gerechnet hätte. Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster musste Überzeugungsarbeit leisten, dass eine Stadt ein eigenes Theater nur für Kinder und Jugendliche benötigt. Wobei man bereits eine solche Bühne besaß: das Theater im Zentrum in der Heusteigstraße. Das allerdings hatte man in seinen letzten Jahren finanziell so stark beschnitten, dass es sogar sein Ensemble entlassen musste.

Im Nachhinein hat es sich als richtig erwiesen, den Kindern- und Jugendlichen eine professionelle Bühne mitten in der Innenstadt zu schenken, eingebettet zwischen Fitz und Tri-Bühne, Kindergarten und Museumspädagogischem Dienst. Hier wurde umgesetzt, was Wolfgang Schuster sich vorstellte unter einer kinderfreundlichen Stadt. An den meisten Theatern gibt es Stücke für Kinder und Jugendliche – das Jes aber versteht seine Arbeit nicht als Sprungbrett ins Erwachsenentheater, sondern will genau diese Zielgruppe.

Manches muss man einfach hinnehmen

Leicht ist das nicht immer. Man muss es erst einmal schaffen, einen Stall voller Kinder oder Jugendlicher eine Stunde lang ruhig zu halten, sie so ins Geschehen hineinzuziehen, dass sie nicht ständig blöde Kommentare reinrufen oder auf ihrem Handy herumdrücken. Kinder- und Jugendtheater ist eine besondere Herausforderung, das merken die Schauspielerinnen und Schauspieler jeden Tag wieder. Wenn es für Kleinkinder Sitzkissen gibt, sitzen diese nicht, sondern liegen. Das muss man einfach hinnehmen.

„Die Hektik der Welt merkt man den Kindern an“, sagt Brigitte Dethier. Sie stellt auch zunehmend fest, dass „die soziale Erziehung an vielen Ecken und Enden fehlt“. Sie erlebt unter den Zuschauern nicht nur Kinder, denen es an Geld fehlt, sondern auch manche mit anderen Defiziten. „Wir haben ganz oft verwöhnte Einzelkinder, die emotional verarmt sind“ – selbst wenn sie äußerlich „aus dem Ei gepellt sind“, so Dethier.

Das Jes versucht die vielen verschiedenen Kinder zu erreichen, unabhängig vom Alter, von ihrer Bildung und den kulturellen Wurzeln. Gelegentlich fragen Lehrer an, ob das Jes nicht Stücke zu den Sternchenthemen machen könne oder zu aktuellen Problemen wie Mobbing oder Drogen. Aber Brigitte Dethier will nicht einfach „Gebrauchsstücke“ abliefern. In den meist selbst entwickelten Produktionen geht es zwar auch um die vielen Facetten eines jungen Lebens, um Konflikte mit den Eltern oder Pubertät, um Drogen oder Gewalt. Aber der Ansatz ist stets ein künstlerischer. Deshalb spielen die Schauspieler auch nie in Klassenzimmern oder in einer Schulaula – sondern das Jes macht Theater mit allem, was zu gutem Theater dazugehört.

Internationale Gastspiele

Das zahlt sich aus. Das Jes hat Preise gewonnen – auch den angesehen Deutschen Theaterpreis „Der Faust“. Es wird häufig eingeladen und hatte Gastspiele in Malmö und Mexiko-Stadt, Madrid und Marseille, Basel, Bergen, Bologna. Es wurde auch schon zum Berliner Theatertreffen und den Ruhrfestspielen eingeladen.

Vor allem für Brigitte Dethier hat sich die Arbeit in diesen zehn Jahren verändert. Sie ist längst nicht mehr nur künstlerische Chefin, sondern sitzt in Fachbeiräten, berät bei Bildungsplänen und in Sachen Kulturelle Bildung. Das Jes gehört zu den führenden Kinder- und Jugendtheatern – „da kommen viele Aufgaben auf uns zu“, sagt Dethier – auch Festivals und Symposien.

Der Laden läuft – und Dethier könnte sich entspannt zurücklehnen. Dafür ist sie allerdings selbst viel zu umtriebig – und will alles, nur nicht selbstzufrieden werden. „Sonst muss man woanders hingehen“, sagt sie. Um sich selbst neu herauszufordern, will das Jes in dieser Saison experimentieren. Statt großer Neuproduktionen werden in Projekten neue Spielformen und Ideen erprobt – Tanztheater für Kleinkinder oder Figurentheater für Jugendliche. Außerdem wird das Repertoire rauf- und runtergespielt, damit wirklich alle sehen können, was sie sehen wollen: „Nach Schwaben, Kinder!“ über die Schwabenkinder, „Max und Moritz“ oder den Krimi „Die Wanze“.

Als das Jes vor zehn Jahren seinen Betrieb aufgenommen hat, waren Stadt und Land noch fest in der Hand der CDU. Inzwischen regieren die Grünen. Für das Jes habe sich dadurch nichts geändert, meint Dethier. Nur eines fehlt ihr bisher: ein klares Bekenntnis des Ministerpräsidenten für die Kultur. „Das gab es zu früheren Zeiten“, sagt Dethier, „das steht noch aus“.