So jung und schon Experte. Das Kleinkind arbeitet hauptberuflich als Raumausstatter und entdeckt längst verloren geglaubte Schätze. Unser Kolumnist Michael Setzer ist begeistert: Er lernt nicht nur die Wohnung, sondern auch sich selbst neu kennen.

Stuttgart - Manchmal muss man als Vater auch mal mit dem geballten Fachwissen protzen – also, vor dem Einjährigen. „Nee, nicht mit den Schraubenzieher in die Steckdose bohren. Sonst wird das hier alles zu funky!“, sage ich. Und: „Himmel, wo hat er denn jetzt schon wieder den Schraubenzieher her?“. Mit stetig wachsender Größe, erschließen sich dem Jungen ständig neue Möglichkeiten in seiner Reichweite.

 

Die Sache ist allerdings die: Seit das Kind laufen kann, scheint er auch zunehmend arrogant, manchmal nimmt er mich kaum wahr, läuft brabbelnd oder gestikulierend durch die Wohnung und zieht gnadenlos sein Ding durch: Innenausstattung oder wie man bei den Oscars sagt „Set Design“. Denn eigentlich trägt der Junge von morgens bis zur Bettzeit die Wohnungseinrichtung spazieren und ordnet gegebenenfalls alles neu.

Manchmal schimpft er, wenn ich zum Beispiel sein Tageswerk torpediere und die sorgfältig in der Badewanne abgelegten Utensilien wieder an Orten in der Wohnung platziere, die mir persönlich sinnvoller erscheinen. Meine Erfahrung sagt mir: a) ich bin Vater, ich darf das – und b) Badewannen sind super, für die Fernbedienung, die schnurlose Maus vom Computer oder die Vinylsingle von Eddie Money („I Think I’m In Love“) gibt’s aber bessere Orte.

Das Kind weiß, wo das Zeug liegt

Doch seine unverzichtbare Expertise im Tagesgeschäft, darf nicht verschwiegen werden: Der Junge weiß, wo alles liegt. Der findet Dinge, die man verloren geglaubt oder vergessen hatte und spürt Kram auf, von dem ich nicht ahnte, dass er sich überhaupt in meinem Besitz befindet.

Das Kind hat obendrein seine ganz eigene Art gefunden, mir mein bisheriges Leben unter die Nase zu reiben: läuft strahlend auf mich zu, sagt „Mh?“ und überreicht mit feierlich einen Sanifair-Wertbon – von 2011. Das sind die lustigen Eintrittskarten, wenn man an der Autobahnraststätte die Toilette statt der Hecke benutzt.

Damals kostete das noch 50 Cent und man kann auch heute noch den Betrag nach dem Geschäft, wieder im Einkaufsbereich der Raststätte reinvestieren. Wertbon vorlegen, zack, fertig, Preisrabatt auf die Milchschnitte. Genial! Es ist so eine Art Toiletten-Maut, glücklicherweise nicht von Andreas Scheuer (CSU) geplant, sonst wäre ich vor verschlossener Klotüre geplatzt. Hab ich dem Sohn genau so erklärt.

Ein Taschenrechner?!

Kurz darauf überreicht mir der Kleine feierlich einen Taschenrechner von Casio – „Mh?“. Ich bin derart miserabel in Mathematik, dass ich mir nicht ausrechnen kann, wie lange es her sein muss, als dieser Taschenrechner letztmals ordentlich gedrückt wurde. Mir war nicht mal klar, dass sich so etwas überhaupt in meinem Besitz befindet.

Als ich gerade erklären möchte, was das für ein Gerät ist, hält sich der Kleine den Taschenrechner ans Ohr, fängt zu plappern an: „Dibubadibulabubi!“ und dreht sich leicht von mir weg, wie so einer der bei einem wichtigen Telefonat nicht gestört werden möchte. Schon klar, niemand ist beschäftigter als ein Kleinkind bei der täglichen Arbeit.

Type O Negative

Kurz vor Feierabend drückt er mir eine Kassette in die Hand, ein „Tape“, wie wir Musikliebhaber sagen. Es stammt aus einer Schublade und der Zeit, als Plattenfirmen noch Tapes verschickt haben, um Reklame für neue Musik zu machen. „Type O Negative“ steht auf dem Tape und „World Coming Down“ – inklusive solch blumiger Stimmungshits wie „Everything Dies” und „Everyone I Love Is Dead”. „Mh?“, fragt der Kleine und guckt skeptisch.

„Das ist ein Tape“, sage ich. „Eine Kassette mit Musik“. „Musik!“, wiederhole ich und mache Tanzbewegungen, weil wir oft zusammen tanzen – und dann tanzen wir, obwohl er die Kassette noch in den Händen hält. Hab sie ewig nicht gehört.

Der Kleine scheint ein Genie in seinem Metier. Er hat längst nicht nur meine Wohnung, sondern auch meinen Blick auf die Zeit zwischen den Sonnenuntergängen neu arrangiert. Mit etwas Faulheit und Fantasie habe ich mich früher in epischer Breite dem Weltuntergang oder konstruktivem Nihilismus hingegeben – bringt ja eh alles nix, wir sterben ja sowieso, Menschen sind böse, ... Alles egal und immer schön zynisch bleiben und den Apokalypso tanzen. Doch seit das Kind da ist, ist in der Hinsicht nichts mehr egal.

Keine Zeit für den Weltuntergang

Ich werde nichts auf „World Coming Down“ von Type O Negative, nichts auf traurige Lieder und auch nichts auf gut ausgeleuchtete Melancholie und Regenwetter in der Seele kommen lassen. Das alles ist wichtig, manchmal furchtbar traurig, aber oft eben auch ein Spaß.

Für die Apokalypse aber habe ich wirklich keinerlei Verwendung mehr. Selbst die bösen und traurigen Lieder von damals sagen plötzlich, wie wichtig das jetzt alles jeden Tag ist. Leben hochhalten wie einen Pokal, „Guten Morgen“ sagen und das auch wirklich so meinen.

„Auf das Leben!“, rufe ich dem Kleinen zu und wir tanzen während ich irgendeine Melodie von Type O Negative summe. Dann frage ich, was man als aufmerksamer Vater immer wieder fragen sollte: „Hömma, wo ist eigentlich schon wieder die Maus vom Computer hin?“

Er (zeigt auf die Badewanne): „Mh?“

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Michael Setzer ist vor gut einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.